Aus einer E-Mail, die FOCUS online vorliegt, geht hervor, dass die Hausspitze im Flüchtlingsministerium von Josefine Paul (Grüne) bereits am Abend nach der tödlichen Messerattacke in Solingen durch den Islamisten Issa al H. wusste, um wen es sich handelt. Auch seine gescheiterte Abschiebung nach Bulgarien war demnach bekannt.
Fall Solingen: Verräterische Mail an Ministerium
Am Samstagabend, den 24. August 2024 um 21.22 Uhr, erreichte diese Mail den Leiter des Ministerbüros, die beiden persönlichen Referenten von Ministerin Paul und Staatssekretär Lorenz Barth sowie die zuständige Abteilungsleiterin „Flucht“. In dieser Mail teilte der Gruppenleiter für Rückkehrmanagement nach der Festnahme des mutmaßlichen Dreifachmörders Folgendes mit: „Über andere Kanäle ist noch vor der Medienberichterstattung bekannt geworden, dass es sich bei der tatverdächtigen Person wohl um einen syrischen Staatsangehörigen handeln dürfte, dessen Asylantrag abgelehnt worden ist. Nach erfolglosem Klageverfahren war eine Dublin-Überstellung nach Bulgarien geplant, die aber wegen Nichtanwesenheit in der Zentralen Unterbringungseinrichtung scheiterte. Nach Ablauf der Überstellungsfrist erfolgte dann wohl eine kommunale Zuweisung nach Solingen.“
Ministerin Paul, die in Frankreich weilte, um tags darauf eine Rede zum Gedenken an ein SS-Massaker im Zweiten Weltkrieg zu halten, hat bisher stets behauptet, dass sie erst am Sonntagvormittag sicher über den Sachverhalt informiert worden war. Kann das sein? Wieso wurde die Grünen-Politikerin nicht schon am Vorabend über die neue Entwicklung benachrichtigt? Bisher blieb auch jene Frage unbeantwortet, wieso die Ministerin abtauchte und keine Antworten zu dem missglückten Abschiebefall lieferte, obwohl sie längst im Bilde war.
NRW-Ministerium hatte schon früh Bild der Lage
Auch ein Gespräch am Samstagnachmittag wirft Fragen auf. Nach FOCUS-online-Informationen telefonierte an jenem 24. August gegen 16.40 Uhr Lorenz Bahr, Staatssekretär im Flüchtlingsministerium, mit seiner Kollegin Daniela Lesmeister aus dem Innenressort. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Issa al H. noch auf der Flucht, allerdings hatte man sein Portemonnaie mit seinem Ausweis gefunden. Insofern wussten die Ermittler und das Innenministerium, wie der Mann hieß, der vermutlich mit zahlreichen Messerstichen drei Menschen ermordet hatte.
Trotzdem sollen die Erkenntnisse nicht Gegenstand des Telefonats gewesen sein. Laut dem Flüchtlingsministerium „ging es in dem Austausch zwischen Herrn Staatssekretär Bahr und Frau Staatssekretärin Lesmeister ausschließlich um medial bekannte Sachstände, wie es auch aus dem Mitschnitt des Integrationsausschuss vom 30. Oktober entnommen werden kann“.
Die Antwort ist so nebulös, wie das gesamte Aussageverhalten der Ministerin. Innenminister Herbert Reul (CDU) ließ zuletzt im Innenausschuss des Landtags einzig verlauten, dass es in diesem Telefonat um die Festnahme eines 15-jährigen Migranten gegangen sei, der zeitweilig in Verdacht stand, ein Komplize des Attentäters zu sein.
Um 17.30 Uhr hatte Ministerium wichtige Informationen zum Verdächtigen
FOCUS-online-Recherchen legen eine andere Version der Ereignisse nach dem Solinger Terroranschlag nahe, als die Flüchtlingsministerin Paul bisher verbreitet hat. Demnach verfügten hochrangige Ministeriale aus ihrem Haus an jenem 24. August bereits gegen 17.30 Uhr über wichtige Teile der Ausländerakte des mutmaßlichen Terroristen Issa al H. Ehe man aber die Ministeriumsleitung alarmierte, versuchte man den kompletten Sachverhalt durch Rücksprache mit dem zuständigen Ausländeramt in Bielefeld zu klären – das zog sich hin. Schließlich beschlossen die Ministerialen am Abend, die Hausspitze zu unterrichten.
Das Flüchtlingsministerium blieb auf Anfrage bei seiner Darstellung, am Samstagabend hätten „keinerlei gesicherte Informationen“ dazu vorgelegen, dass es sich bei dem Attentäter um den abschiebepflichtigen Flüchtling handelte, hieß es. Gesicherte Daten hätte es „erst am Sonntag“ gegeben.
Wie es angesichts der vorliegenden Mail zu dieser Einschätzung kommen kann, wird jetzt Paul demnächst wohl auch im parlamentarischen Untersuchungsausschuss erklären müssen, der die Vorgänge innerhalb der Landesregierung bei der Bewältigung der Krisenlage in Solingen aufarbeitet.
Kritik aus der Opposition
Lisa-Kristin Kapteinat, Vize-Fraktionschefin der SPD im Düsseldorfer Landtag, warf Ministerin Paul vor, „eine Antwort auf die Frage, seit wann sie über die Zuständigkeit ihres Hauses bei der Aufklärung des Anschlags von Solingen Bescheid wusste“ zu verweigern. Paul ignoriere die einfachsten Fragen und setze „damit ihre Salamitaktik fort, die Sachverhalte rund um den Anschlag nur scheibchenweise und nie proaktiv“ einzuräumen, befand die SPD-Politikerin. „Frau Paul scheint bestimmte Aspekte ihres Verhaltens am Wochenende des Anschlags vertuschen zu wollen. Spätestens bei ihrer Befragung im Untersuchungsausschuss wird das mögliche Versagen in vollem Umfang ans Licht kommen.“
Laut dem innenpolitischen Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, Marc Lürbke legt „der Fall Solingen ein gravierendes Führungsversagen im Fluchtministerium von Ministerin Paul offen. Hier geht es nicht nur um Kommunikationsprobleme – hier geht es um eine ministerielle Verantwortungslosigkeit, die die Sicherheit unserer Bürger riskiert. Eine geplante Abschiebung scheitert wegen interner Missstände, Sicherheitsbedenken werden offenbar ignoriert: Das ist ein Skandal, der alle Alarmglocken schrillen lassen muss“.
Es sei die Pflicht einer Ministerin, so der Liberale weiter, „über sicherheitsrelevante Fälle Bescheid zu wissen und Abläufe in ihrem Haus fest im Griff zu haben. Dass dies hier offenbar nicht der Fall war, wirft die Frage auf: Ist Ministerin Paul überhaupt in der Lage, ihrem Amt gerecht zu werden? Noch alarmierender ist der Verdacht, dass diese massiven Fehler möglicherweise bewusst vertuscht werden sollten – das wäre absolut inakzeptabel“.