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Die Zukunft der Pflege: Heime sind nicht die einzige Lösung

Die Zukunft der Pflege: Heime sind nicht die einzige Lösung


Herr Prof. Klie, Sie sind um die 70. Welche Vorstellung haben Sie davon, wie Sie gepflegt werden möchten?

Wir dürfen Alter und Pflegebedürftigkeit nicht gleichsetzen. Das Leben lieben – das ist die beste Vorsorge; absehbare Risiken, chronisch krank zu werden, reduzieren. Prävention ist gefragt: körperlich, sozial, mental, spirituell. Gelingt auch mir keineswegs konsequent. Ich gehöre aber zu den Privilegierten der Mittelschicht, die wesentlich bessere Voraussetzungen mitbringen, chronischer Krankheit vorzubeugen oder mit ihr umzugehen, als einkommensschwache und bildungsferne Bevölkerungsgruppen. Für mich persönlich ist auch existenziell, mein Leben mit Menschen teilen zu können, die mir bedeutsam sind und denen ich bedeutsam bin. Ich möchte im Familien- und Freundeskreis sowie vor Ort in einer Kultur der nachbarschaftlichen und freundschaftlichen Sorge aufgehoben sein.

Für Sie gilt also nicht der Satz: Meine Angehörigen will ich nicht belasten?

Ich habe meinen Vater nach einem schweren Schlaganfall 13 Jahre lang begleitet. Mir ging es wie vielen Pflege­erfahrenen: So anstrengend das auch war, ich möchte die Erfahrung nicht missen. Verletzlichkeit kann Nähe schaffen: eine, die ich vorher so nicht erlebt habe. Ich will das nicht romantisieren, aber wenn wir uns nur als autarke Menschen gut finden und die Angewiesenheit auf die Hilfe anderer nicht akzeptieren können, haben wir vom Leben nur die Hälfte verstanden.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Also nach Möglichkeit kein Heim für Sie?

Wir brauchen auch „kollektive“ Versorgungsformen. Aber ins Heim kommt man nicht wegen Blasenschwäche, sondern wegen Netzwerkschwäche. Ein soziales Sorgenetz, flankiert durch ein gut abgestimmtes professionelles Back-up, senkt die Wahrscheinlichkeit, auf ein Heim angewiesen zu sein, deutlich. Heime sind nicht die Antwort auf den demographischen Wandel. Sie sind besonders ressourcenintensiv. Sehr viel Geld der Pflegeversicherung wird für Heime ausgegeben. Ist das der richtige Weg für die Zukunft?

Genau. Wir haben falsche Akzente in der Pflege- und Gesundheitspolitik gesetzt. Uns fehlt schlicht das Personal für Heimlösungen. Wir hatten 2020 und 2021 so viel Pflegeauszubildende wie noch nie. Pflege ist ein attraktiver Beruf – auch für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Gleichzeitig sind wir mit einem berufsdemographischen Sachverhalt konfrontiert, der es in sich hat: Bayern wird das erste Land sein, in dem der „Pflege-Kipppunkt“ erreicht wird, der Zeitpunkt also, zu dem mehr Pflegende altersbedingt aus dem Beruf ausscheiden als Neueinsteiger starten.

Prof. Dr. Thomas Klie, leitet das Institut AGP Sozialforschung sowie das Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung in Freiburg und Berlin. Er arbeitet als Rechtsanwalt und ist seit Jahrzehnten als Sozialexperte mit der deutschen Gesundheits- und Pflegepolitik beschäftigt und in der Politikberatung tätig. Sein neues Buch heißt "Pflegenotstand? Eine Streitschrift".
Prof. Dr. Thomas Klie, leitet das Institut AGP Sozialforschung sowie das Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung in Freiburg und Berlin. Er arbeitet als Rechtsanwalt und ist seit Jahrzehnten als Sozialexperte mit der deutschen Gesundheits- und Pflegepolitik beschäftigt und in der Politikberatung tätig. Sein neues Buch heißt “Pflegenotstand? Eine Streitschrift”.Marc Doradzillo

Das ist schon bald. Kann uns bei der zukünftigen Versorgung auch die moderne Technik helfen?

Digitalisierung birgt viele Potentiale, die wir hierzulande noch nicht nutzen. Robotik kann unterstützen; viele Menschen mit Behinderung berichten, wie sie ihre Autonomie sichern hilft. Wir brauchen Telemedizin und -pflege. Nur dürfen wir die Antworten auf die Herausforderungen nicht allein in technischen Lösungen suchen. Auch Länder, die technisch weiter sind wie etwa Japan, sind vorsichtiger geworden bei ihren Erwartungen an die Technik in der Pflege.

Sie bringen andere Länder ins Spiel. Wo läuft es mit der Pflege besser als bei uns?

In manchen Regionen Italiens etwa lassen sich genossenschaftliche Traditionen mit sehr beeindruckenden Strukturen und Kulturen besichtigen. Sie bauen auf gegenseitige Unterstützung, bis hin zur medizinisch-pflegerischen Versorgung – etwa mithilfe der pensionierten Krankenschwester. Fachlichkeit und Solidarität werden in einer gemeinwirtschaftlichen Perspektive verbunden, und das auch noch mit „Urban Gardening“, gutem Essen, gutem Wein und Kultur. Beeindruckend! Auch in Frankreich gibt es interessante Traditionen.

Gastfamilien sind dort verbreitet, ähnlich den Pflegefamilien für Kinder und Jugendliche in Deutschland.

Pflegebedürftige kommen in Familien, die nicht ihre eigenen sind?

Ja, kommunal finanziert und fachlich begleitet. Die Familien erhalten für ihre Aufgaben Geld und werden von Sozialarbeitern und Pflegekräften begleitet. Wenn die Kinder weg sind, das Haus leer und Platz vorhanden, dann kann das attraktiv sein. Wir haben das in Deutschland auch erprobt. In Baden-Württemberg funktioniert es ganz gut, in Sachsen-Anhalt und Sachsen gab es viele Hürden. Bemerkenswert sind auch die „Seniorenuniversitäten“ in Slowenien. In postsozialistischer Tradition ist die Seniorenbildung in der Breite der Bevölkerung verankert – weitgehend bürgerschaftlich organisiert.

Wenn es um Gesundheit geht, schauen wir auch immer neidisch in die skandinavischen Länder. Gilt das bei der Pflege nicht?

Doch, durchaus. Zunächst: Deutschland hinkt international in der Professionalisierung der Pflege hinterher. Augenhöhe zwischen Medizin und Pflege können wir in Skandinavien lernen. In Dänemark etwa liegt Verantwortung für die Pflege bei der Kommune. Kommunalpolitisch hat das Sorgethema dadurch einen ganz anderen Stellenwert. Das ist vorbildlich – auch für uns.

In Ihrem Buch „Pflegenotstand? Eine Streitschrift“ plädieren Sie für mehr ambulante professionelle Pflege, die ergänzt wird durch soziale Netzwerke, zum Beispiel in „Sorgenden Gemeinschaften“. So wie Sie es sich ja auch für sich selbst wünschen. Von einer breit verankerten Kultur der Pflege und Sorge in unserer Gesellschaft sind wir aber weit entfernt. Vielmehr herrschen Hemmungen und Berührungsängste vor.

Ja und nein. Die weitaus meisten werden zu Hause gepflegt. Die Sorgebereitschaft ist hoch. Die sorgenden Gemeinschaften sind da. Trotzdem gilt, auch wenn wir eine pflegeerfahrene Nation sind, dass die Bilder vom Alter und von Demenz angstbesetzt sind. Menschen mit Demenz wirken für manche bedrohlich. Das müssen wir kulturell und durch persönliche Erfahrungen überwinden.

In Südbaden wurden in unserem Projekt Begegnungen zwischen Kita-Kindern und Menschen mit Demenz organisiert und begleitet. Eines meiner emotional berührendsten Projekte. Dort haben sich die Bilder von Menschen mit Demenz verändert – bei den Kindern und ihren Eltern. Im bildungsbürgerlichen Freiburg gab es anfänglich nämlich Eltern, die ihr Kind nicht teilnehmen lassen wollten wegen „Ansteckungsgefahr“.

Das mag ein erfolgreiches Projekt sein, aber ändern wir so eine ganze Kultur?

Solche Begegnungen sollten selbstverständlich werden. Beziehungen entstehen durch Kontakt. Teilhabesicherung ist eine kulturelle Leistung. Menschen mit Sorgebedarf sind und bleiben unsere Mitbürger. Sie in unsere Lebensführung einzubeziehen heißt, sie nicht als Fremde oder „Pflegefälle“ zu sehen und zu behandeln. Etwas „Dementisch“ zu lernen zeichnet eine sorgende Gesellschaft aus. Als Kinder und Jugendliche lernen wir soziale Verantwortungsübernahme – oder auch nicht. Nicht nur in der Weihnachtszeit mit dem Kinderchor Solidarität zu zeigen ist gefragt, um Begegnungen im Alltag geht es.

Freiwilligkeit wird das nicht schaffen. Könnten ein verpflichtendes soziales Jahr oder Gesundheitsunterricht in Schulen das Problem nicht angehen?

Ein Aufgreifen in Lehrplänen finde ich richtig. Die Dimension von sozialer Verantwortungsübernahme ist wichtig, wird aber zugunsten von MINT-Fächern im Moment vernachlässigt. Soziales Lernen muss stärker betont werden. Bei einer gesetzlichen Dienstverpflichtung für alle bin ich skeptisch – es sei denn, die Wehrpflicht wird wieder eingeführt.

Warum sind Sie skeptisch?

Sorge ist eine Tugend, keine Pflicht. Für die kulturelle Herausforderung der Sorge gibt es keine militärische Lösung. Lassen Sie uns erst mal den vielen jungen Menschen, die einen Freiwilligendienst als Lerndienst leisten wollen, die Möglichkeit geben. Sie finden nämlich oft keinen Platz. Freiwilligendienste abbauen und Pflichtdienst fordern, das passt nicht zusammen.

Soziales Jahr hin oder her, Sie schreiben in Ihrem Buch ohnehin: „Wir müssen erkennen, dass wir auf Dauer nicht nur Zuschauer bleiben können.“ Sie nehmen uns also alle in die Pflicht, wir sollen eine „Sorgende Gemeinschaft“ werden.

Auch bei der Pflege gilt wie beim Klimawandel: Wir können vom Staat und dem Markt nicht erwarten, dass er für alles sorgt. Die Zeiten dauerhaften Wachstums waren verführerisch. Jetzt aber können wir uns das teuerste, dabei ineffektive Gesundheitssystem nicht mehr leisten. Was die professionelle Seite anbelangt, müssen wir deutlich effizienter werden. Für die Care-Arbeit in der frühen Kindheit und im hohen Alter gilt: Allein auf die traditionelle Sorgearbeit in Familien, durch Frauen zu setzen ist nicht fair und nicht tragfähig.

Etwa ein Drittel aller Menschen ist alltäglich unterstützend für Nachbarn tätig. Es werden künftig mehr werden müssen.
Etwa ein Drittel aller Menschen ist alltäglich unterstützend für Nachbarn tätig. Es werden künftig mehr werden müssen.Wolfgang Eilmes

In der politikwissenschaftlichen Diskussion gibt es eine Diskussion um neue Sorgeformen, die Caring-Community-Ansätze aufgreift. Auch Parteien führen sie. Wir haben sie vielfach vor Ort: die sorgende Gemeinschaft aus Nachbarschaft, Freunden, Vereinen, aber nicht überall. Sie ist eine utopische wie realistische Perspektive, wie Sorge in Zeiten demographischer Transformation gelingen kann. Wir müssen über die faire Verteilung von Sorgeaufgaben reden und ringen. Auch wir Männer.

Männer mögen hier noch mehr Nachholbedarf haben, aber ist es realistisch, dass sich eine ausreichende Zahl an Menschen, Frauen wie Männer, plötzlich in die Versorgung der tatterigen Nachbarin einbringt?

Ein Blick in die Zeitverwendungsstudie des Statistischen Bundesamts zeigt, dass die Nachbarschaften heute schon die zweitwichtigste soziale Unterstützungsinstanz überhaupt sind. Es ist erstaunlich, wie viele sich, eher im Verborgenen, um ältere und vulnerable Nachbarn kümmern. Das ist jetzt nicht Pflege im fachlichen Sinne. Das ist Sorge als anteilnehmende Aufmerksamkeit: Mich interessiert, wie es dir geht, ich kaufe für dich ein, bringe dir Essen. Etwa ein Drittel aller Menschen ist alltäglich unterstützend für Nachbarn tätig. Ein tolles Beispiel ist Chemnitz.

Ich arbeite an einer Studie über Koordinationsaufgaben in der Pflege in allen 16 Bundesländern. Chemnitz ist von der Bevölkerungszusammensetzung her die älteste Stadt Deutschlands. In Plattenbauten leben viele Hochbetagte. Wie sie sich unterstützen, das ist beeindruckend. Sie altern kollektiv. Auch eine sorgende Gemeinschaft. Ja, wir werden in soziale Nachbarschaften investieren müssen.

Wir wollen nicht pessimistisch klingen, haben aber in der Vorbereitung auf unser Pflege-Spezial gespürt, wie negativ das Thema besetzt ist. Ein solches Umdenken deutschlandweit und dann noch freiwillig: Wer soll das anstoßen?

Wenn Sie nach Wien gucken, im achten Bezirk, wird zu Nachbarschaftsgesprächen eingeladen. Sokratische Gespräche heißen sie in tirolischen Dörfern. Dort wird verhandelt: Wie sorgen wir für Bedingungen guten Lebens unter veränderten Vorzeichen? Das ist Demokratie im Kleinen. Nicht sofort in­strumentelle Hilfe mit Ehrenamtlichen organisieren, gemeinsam nach Wegen suchen. In der Schweiz war es die Migros, die die sorgenden Gemeinschaften unterstützt. In Österreich spielt das Rote Kreuz eine Impulsgeberrolle. Kirchengemeinden können es sein. Bürgermeister werden immer häufiger mit Fragen konfrontiert. Es gibt welche, die sich das Thema Sorge und Pflege zu eigen machen. Daseinsvorsorge heißt: Ringen um Bedingungen guten Lebens für alle. Daseinsvorsorge heißt nicht: Der Staat macht’s.

Wie fange ich damit morgen an? Auch, wenn ich gerade keinen Berührungspunkt zur Pflege habe?

Informieren Sie sich über das Thema Alter, Leben im Alter und Sorge und Pflege. Wir haben Altern nicht gelernt. Sich kümmern, Anteil nehmen, Kurse besuchen, auch zum Thema Demenz. Und reden: mit Freunden, Familie, Nachbarn. Kommunalpolitisch dazu beitragen, dass das Thema oben auf die Agenda kommt.



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