Es ist gut 33 Jahre her, dass Jörg Kukies zuletzt gegen die FDP demonstrierte. Damals studierte er Wirtschaftswissenschaften in seiner Heimatstadt Mainz, vor allem aber amtierte er als Landesvorsitzender der Jungsozialisten in der SPD. Anlass für den Zwist war ein unverhoffter Erfolg. Weil sich die Christdemokraten in Rheinland-Pfalz heillos zerstritten hatten, gewann der Sozialdemokrat Rudolf Scharping die Wahl mit einem aus heutiger Sicht sagenhaften Ergebnis von 44,8 Prozent der Stimmen. Das verschaffte ihm die Freiheit, wahlweise mit den Grünen oder der FDP zu regieren. Die liberale Option hielt er für strategisch klüger.
Kukies und seine Mitstreiterin Andrea Nahles fanden das nicht. Sie überreichten dem designierten Regierungschef vor einer SPD-Sitzung rot-grüne Luftballons. Geholfen hat es nicht: Die FDP sitzt seither in der Regierung des Bundeslandes, mit einer kurzen Unterbrechung von zwei Wahlperioden. Und viele der Juso von einst versöhnten sich mit der Entscheidung, auch Kukies, der seine Parteikarriere alsbald für ein Auslandsstudium aufgab, das ihn über Paris und die Vereinigten Staaten schließlich zur Investmentbank Goldman Sachs führte, ohne dass er seine Kontakte zu den politischen Mitstreitern von einst je komplett aufgegeben hätte.
Jetzt ist Kukies mithilfe der FDP aufgestiegen. Mit Versöhnung hat das allerdings wenig zu tun. Er darf sich Bundesminister der Finanzen nennen, es ist der einflussreichste Posten im Kabinett neben dem Bundeskanzler, in gewöhnlichen Zeiten wenigstens. Doch die Zeiten sind nicht gewöhnlich. Kukies übernahm die neue Aufgabe ziemlich plötzlich vom Freidemokraten Christian Lindner, der mit einem forschen Positionspapier den Bruch der Ampelkoalition provozierte – und dann doch recht überrascht war, dass Olaf Scholz ihm zuvorkam und beim Bundespräsidenten eine Entlassungsurkunde für den rebellischen Minister in Auftrag gab. Dass Kukies für den Fall der Fälle bereitstehen würde, dessen hatte Scholz sich im Vorfeld schon vergewissert.
Dass die Wahl auf Kukies fiel, erschien auf den ersten Blick folgerichtig. Schließlich hatte der heute Sechsundfünfzigjährige zwischen 2018 und 2021 schon unter dem Ressortchef Scholz als Staatssekretär im Finanzministerium gedient, kennt das Haus und seine Mitarbeiter also gut. Auch als wirtschafts- und europapolitischer Berater im Kanzleramt blieb er den Themen treu, sammelte obendrein internationale Erfahrung, die der Kassenwart der wichtigsten europäischen Wirtschaftsnation braucht. Und als früherer Deutschlandchef der Investmentbank Goldman Sachs kennt er die Finanzbranche auch von innen.
So kommt es, dass aus einem politischen Beamten in Ministerium und Kanzleramt auf einmal selbst ein Politiker wird. Zwar einer, der offiziell nur für die Zeit von Wahlkampf und Regierungsbildung geräuschlos die Geschäfte führen und dafür sorgen soll, dass dem Land trotz fehlender Haushaltsbeschlüsse das Geld nicht ausgeht. Aber eben auch einer, der als Finanzminister automatisch im Zentrum eines Wirtschaftswahlkampfs steht, der ganz wesentlich um Steuer- und Schuldenfragen kreist.
Gut möglich auch, dass die Rückeroberung des Hauses durch die SPD sogar von Dauer ist, wenn sie nach der Wahl als Juniorpartner der Union in der Regierung bleibt. So hatte sie es jedenfalls schon 2009 und 2018 gehalten, und 2013 verzichtete sie vor allem deshalb, weil sie sich von einem Putsch gegen den populären Amtsinhaber Wolfgang Schäuble keinen politischen Gewinn versprach.
„Merz hat mit Sparbüchern rumgezockt“
Aber mehr noch, Kukies ist eben auch ein früherer Investmentbanker mitten in einer SPD-Kampagne, die manch ein Genosse gerne mit harten Angriffen auf den früheren Aufsichtsrat einer Investmentgesellschaft führen möchte, auf den Unionskandidaten Friedrich Merz und dessen frühere Tätigkeit für Blackrock. „Friedrich Merz hat bei Blackrock mit den Sparbüchern der Menschen rumgezockt“, äußerte etwa Mahmut Özdemir, Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, dieser Tage im Radio.
Es sind gerade ein paar Stunden vergangen seit diesem morgendlichen Interview, als Kukies im Ministerbüro empfängt. Es ist noch ein wenig ungewohnt, den früheren Staatssekretär an dem Platz vorzufinden, an dem man zuletzt Lindner, Scholz, davor auch Wolfgang Schäuble oder Peer Steinbrück traf. Das Nummernschild „D-CL 2017“ ist verschwunden, mit dem Lindner stets selbst an die erfolgreichen Wiederauferstehungs-Wahlkämpfe vor sieben Jahren erinnerte.
Abgehängt sind auch die Gemälde einer chinesischstämmigen Künstlerin, die konkurrierende deutsche Spitzenpolitiker auf dem Kopf stehend zeigten (eine tiefere Bedeutung bestritt Lindner stets). Ein Satiremagazin hat dieser Tage erfunden, dass sich der Vorgänger vor allem mit Schwarz-Weiß-Porträts seiner eigenen Person umgeben habe. Kukies wurde gleichwohl häufiger darauf angesprochen, wie lange er mit dem Abhängen dieser vermeintlichen narzisstischen Hinterlassenschaft beschäftigt gewesen sei.
Jetzt ist er selbst der Chef
Jetzt ist er selbst der Chef an dem Tisch, an dem er mit Olaf Scholz und dessen Truppe jahrelang die großen Krisenpläne ausheckte, von der vierten Tranche des Griechenland-Pakets bis zu den Corona-Hilfen. Und er erklärt gleich, warum er das Banker-Bashing für absurd hält – ob es sich nun gegen ihn richtet oder gegen die politische Konkurrenz.
„Diese Idee gibt es in vielen anderen Ländern nicht: Wer mal bei einer Bank gearbeitet hat, ist in einer Mitte-links-Partei nicht mehr tragbar“, sagt er. „Bei Goldman Sachs habe ich mit einem Vorstandschef gearbeitet, der Republikaner ist, und einem, der Demokrat ist. Auch bei der französischen, britischen und vielen anderen Mitte-links-Parteien gab es immer auch Leute aus dem Finanzsektor.“
Ja, er geht sogar noch einen Schritt weiter. Spricht man mit ihm über die mangelnde Innovationsfähigkeit in Deutschland und anderen europäischen Ländern, fragt man ihn nach den wenigen Projekten, die er in seiner mutmaßlich kurzen Amtszeit auf europäischer Ebene noch vorantreiben kann, kommt er sogleich auf diesen Punkt zu sprechen: „Mit Blick auf die Kapitalmarktunion ist es unser Ziel, das Thema Verbriefungen und die Finanzierung junger innovativer Unternehmen schnell anzugehen, das würde die Finanzierung unserer Volkswirtschaft sehr erleichtern.“ Da sei er sich mit seinem jungen französischen Amtskollegen Antoine Armand einig.
Lob des Investmentbanking
Mehr noch, Kukies nutzt die Gelegenheit, gleich noch ein Lob aufs Investmentbanking anzustimmen, da klingt er fast ein bisschen wie die FDP. Worin er die Aufgabe der Branche sieht? „Ganz klar: die Finanzierungsbedingungen für die Unternehmen in einer Volkswirtschaft zu verbessern. Warum wachsen die USA denn doppelt und dreimal so schnell wie Europa? Ein wesentlicher Grund ist doch, dass die Kapitalmärkte dort viel besser darin sind, wachsende Unternehmen mit Eigenkapital auszustatten.“
Auch auf weniger Regulierung will der neue Minister in Brüssel drängen. „Ich hoffe sehr, das wir beim Thema Bürokratieabbau weiterkommen“, verlangt er. „Die Kommissionspräsidentin hat sehr weitreichende Ankündigungen zum Abbau der Berichtspflichten gemacht, die wir sehr begrüßen. Wir müssen diese Ankündigungen jetzt gemeinsam umsetzen.“ Auch darüber sei er mit seinem französischen Kollegen einig.
Im Umgang mit der Staatsverschuldung in Europa werde sich durch den deutschen Ministerwechsel aber nichts ändern. „Da gibt es keine Parteipolitik. Wir müssen uns konsequent an die europäischen Fiskalregeln halten. Es gilt das Wort von Olaf Scholz: Ein deutscher Finanzminister ist ein Finanzminister.“
Nicht viel Einfluss auf Amerika
Anders als über Brüssel gibt es über Washington nicht viel Hoffnung, dass ein deutscher Finanzminister viel ausrichten kann, auch wenn er die Vereinigten Staaten so gut kennt wie der neue. Vom zweiten bis zum sechzehnten Lebensjahr wuchs Kukies die Hälfte der Zeit in Kalifornien auf, weil sein Vater als Elektroingenieur ungefähr im Zweijahresrhythmus zwischen den IBM-Standorten in Mainz und San José hin- und herwechselte, was der Sohn trotz des ständigen Hin und Hers vor allem mit positiven Erinnerungen verbindet, mit Freibadbesuchen von Februar bis November und häufigen Ausflügen ans Meer.
Aus seiner Zeit bei Goldman Sachs kennt er einige der Kandidaten, die jetzt für den Posten des Finanzministers in Washington gehandelt werden, sogar persönlich. Dass solche Kontakte gegen die Loyalität zu Donald Trump und seinem Programm viel ausrichten können, ist allerdings kaum anzunehmen.
Mehr privates Kapital für Investitionen, weniger Bürokratie, strenge Schuldenregeln in Europa: Das alles ist natürlich auch Wahlkampfhilfe für die eigene Partei, für Olaf Scholz oder womöglich auch für einen anderen sozialdemokratischen Kandidaten, je nachdem wohin die Debatte noch führt. Und diese Hilfe funktioniert umso besser, je mehr sie in der äußeren Form der reinen Sachpolitik daherkommt, im Finanzministerium vielleicht noch mehr als im Kanzleramt, das sich zuletzt in einer Debatte um Wahltermine verhedderte. „Im Finanzministerium muss ich mich auf Sachaufgaben konzentrieren und darf gar keinen Wahlkampf machen“, beteuert Kukies. „ich bewerbe mich ja nicht um ein Mandat, habe auch keine Parteifunktion.“
Beschlüsse vor dem Wahltag
Aber natürlich wären, ganz aus der Perspektive des Fachpolitikers gesprochen, ein paar Bundestagsbeschlüsse noch vor dem Wahltermin ganz hübsch. Schließlich gelte es, die deutsche Wachstumsschwäche schnell zu bekämpfen und nicht irgendwann später. Neben dem Streitthema der kalten Progression, also der Inflationsanpassung des Steuertarifs, fallen dem neuen Minister noch ein paar andere Dinge ein, die das Ampelbündnis schon auf den Weg gebracht hatte.
„In der Wachstumsinitiative sind dazu viele Reformen, die wir in der verbliebenen Zeit verabschieden können, weil die Bundesregierung sie schon im Kabinett beschlossen hat und ein hoher Grad an Übereinstimmung über deren Notwendigkeit besteht“, spricht er in Richtung Union und FDP. Neben der kalten Progression nennt er die Förderung der E-Mobilität, bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen oder das höhere Kindergeld. „Wir reden hier von Milliardensummen, mit denen wir die Unternehmen sowie die Bürgerinnen und Bürger gezielt unterstützen und unserer Wirtschaft einen dringend notwendigen Wachstumsimpuls geben können.“
Dass er ins kommende Jahr ohne beschlossenen Bundeshaushalt starten muss, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach auch fürs laufende Jahr keinen Nachtragshaushalt mehr geben wird, das spielt der neue Ressortchef herunter. „Wir haben uns bewusst für den Weg der Transparenz entschieden. Wir machen daraus kein Drama nach dem Motto: Wenn ihr dem Nachtragshaushalt nicht zustimmt, dann stürzt das Land ins Chaos. Es wird kein Chaos geben – ein Nachtragshaushalt ist eine sinnvolle Option mit einigen Vorteilen“, so klingt das aus seinem Mund. Dabei dient die angebliche Transparenz auch der Selbstvergewisserung: Wir sind auf alles vorbereitet, der Kanzler bringt das Land mit der Lindner-Entlassung nicht ins Schleudern.
Der erste Fauxpas des Ministers
Den ersten Fauxpas hat der Minister allerdings schon begangen, er betraf indes nicht das Fachliche, sondern das Parteipolitische. Ziemlich offen sprach er darüber, dass ihn der Kanzler schon am Tag vor der Lindner-Entlassung gefragt habe, ob er für den Fall der Fälle als Ersatzmann bereitstünde, als Ex-Banker auf der Ersatzbank sozusagen. Die FDP sah sich in ihrem Vorwurf bestätigt, Scholz habe den Koalitionsbruch sorgsam vorbereitet. „Die Anzeichen hatten sich zuvor verdichtet, dass die FDP den Ausstieg aus der Regierung plante“, kontert Kukies. „Auf diese Option musste man sich vernünftig vorbereiten, auch wenn es uns lieber gewesen wäre, wir hätten eine Einigung gefunden.“
Dass es am Tag des Amtswechsels keine persönliche Übergabe im Ministerbüro gab, das hatte allerdings Kukies zufolge nichts mit dem großen Knall des Vorabends zu tun, das habe einfach zeitlich nicht geklappt. „Der Termin beim Bundespräsidenten hat sich nach hinten geschoben, dann musste ich zur Vereidigung gleich in den Bundestag, und das hat dann auch noch länger gedauert als geplant. Da hat dann Christian Lindner gesagt: Komm, dann telefonieren wir halt.“
Auch eine Rückkehr in die ferne Juso-Zeit der rot-grünen Luftballons ist aus Kukies’ Sicht damit nicht verbunden. Das geräuscharme Bündnis von SPD, Grünen und FDP im heimischen Rheinland-Pfalz, findet er, sei doch „ein Anzeichen dafür, dass eine Ampel durchaus hätte funktionieren können“.