Die Regierungserklärung wäre für den Kanzler die Gelegenheit gewesen, sich zu erheben aus dem Klein-Klein der vergangenen Tage. Er hat sie nicht genutzt.
Ein paar Hände in den ersten Reihen regten sich, sonst nichts. Als Olaf Scholz seine Regierungserklärung im Bundestagsplenum beendete, hätte das für die grüne Fraktion eine Gelegenheit sein können, zu zeigen: Auch ohne eigene Mehrheit sind wir noch eine Koalition. Wir erfüllen unsere Pflicht und applaudieren dem Kanzler, auch wenn wir einen eigenen Kandidaten haben.
Doch das geschah nicht. Zu sehen waren müde Gesichter und regungslose Gestalten. Und auch die SPD-Fraktion hat man schon begeisterter erlebt. Kein Wunder. Denn bei seiner Regierungserklärung zeigte Scholz einmal mehr: Er hat dem Land nichts mehr zu geben. Keine Idee, schon gar keine überraschende, keine Orientierung, keine Inspiration. Kein Trost, keine Führung.
Scholz kommt über Kanzler-Floskeln nicht hinaus
Der Kanzler trat inmitten einer der größten politischen Krise der vergangenen Jahrzehnte auf, zur vermeintlich entscheidenden Rede, die den Wahlkampf endgültig eröffnen sollte.
Es wäre seine Gelegenheit gewesen, sich zu erheben aus dem Klein-Klein der vergangenen Tage, in dem in ermüdend gewohnter Manier über völlig ungewohnte Probleme gestritten wurde. Es wäre seine Chance gewesen, den Menschen im Land eine Erzählung mit auf den Weg zu geben – seine Erzählung. Er nutzte sie nicht. Stattdessen kam er in seiner Rede über SPD-Evergreens und Kanzler-Floskeln nicht hinaus.
Da war so einiges zu hören von fleißigen Menschen, die jeden Tag früh aufstehen und das Land am Laufen halten. Vom Kindergeld, das erhöht werden müsse, von Zeiten, die verdammt rau geworden seien. Wenig davon war falsch.
Oppositionsführer Friedrich Merz traf mehrfach den Kern der Sache
Aber fast nichts davon war auf angemessener Flughöhe angesichts der Krise, in die die Ampel-Regierung das Land gebracht hat – oder aus der sie es zumindest nicht herausholen konnte.
Es sei daran erinnert: Vor der Ampel war auch nicht alles bestens. Darum aber geht es in diesen Tagen nicht, sondern um das finale Versagen der rot-grün-gelben Koalition und des Kanzlers.
Das Wort Chuzpe muss erfunden worden sein für die Art und Weise, wie Olaf Scholz und seine SPD nun die Union in die Pflicht nehmen für eine unübersichtliche Liste unvollendeter Gesetzesprojekte. So als habe die das Chaos zu verantworten.
Oppositionsführer Friedrich Merz, der als erster Redner auf Scholz entgegnete, traf mehrfach den Kern der Sache. Zum Beispiel beim Streit um den richtigen Zeitpunkt für die Vertrauensfrage, die nur der Kanzler selbst stellen kann. „Dieses Privileg schützt das Amt des Bundeskanzlers in der Wahrnehmung seiner gesamtstaatlichen Verantwortung. Es schützt nicht den Amtsinhaber in der Wahrung seiner parteipolitischen Interessen.“
Baerbock: Antwort auf „America First“ muss „Europe United“ sein
Das ist wahr, und es möge eine jede und ein jeder für sich beurteilen, ob Bundeskanzler Scholz dieser gesamtstaatlichen Verantwortung in den vergangenen Tagen gerecht geworden ist.
Ob Merz es besser kann, wird aller Voraussicht nach vom Frühjahr an zu beobachten sein. Bis dahin genügt es vermutlich, wenn er keine Fehler macht. So war es auch am Mittwoch: Brillant war seine Rede nicht, solide aber sehr wohl.
Scholz hatte persönliche Angriffe auf den Oppositionsführer unterlassen, und so war es auch umgekehrt. Selbst als später Ex-Finanzminister Christian Lindner sprach, blieb die Debatte, gemessen am Anlass, überraschend unaufgeregt. Womöglich wollte Scholz nach seiner Wut-Rede gegen Lindner vom Mittwoch zeigen, dass er auch wieder sachlich argumentieren kann.
Es war die grüne Außenministerin Annalena Baerbock, die es als einzige schaffte, einen größeren Bogen zu schlagen und anzuknüpfen an der historischen Bedeutung des Moments. Die Antwort auf „America First“ müsse „Europe United“ sein, sagte sie. Mit einem Lagerwahlkampf und Beschimpfungen werde man nicht weiterkommen. Es gehe jetzt darum, die liberale Demokratie zu sichern.
Vielleicht war das die Lehre aus diesem Tag des Schlagabtauschs im Parlament: Dass die deutsche Demokratie einen behutsamen Umgang verdient – gerade jetzt, im anstehenden Winterwahlkampf.