Männer denken oft ans Römische Reich – manche ein paarmal im Jahr, andere einmal pro Monat oder jede Woche; und viele sogar jeden Tag. Diese Nachricht rauschte im letzten Herbst durch die Medienportale, ausgelöst durch eine Aktion auf Tiktok, bei der Frauen ihre Partner nach deren Verhältnis zum alten Rom fragten. Ergebnis: Während die weibliche Bevölkerung sich über das Imperium im Regelfall keinen Kopf macht, ist es für die Mehrheit der männlichen ein ständiges Thema. Und unter jenen, die sich gedanklich mit Cäsaren, Legionären, Kastellen und Gladiatoren befassen, sind wiederum die Jüngeren klar in der Überzahl.
Aber warum? Die Kommentatoren, die das rasch vorbeiflitzende Aufregerthema am Schwanz zu packen versuchten, waren sich mehr oder weniger einig, dass die Rom-Sucht etwas mit Männlichkeitsidealen und adoleszenten Vorstellungen von Macht und Stärke zu tun haben könnte. Aber das erklärt noch nicht die Breite des Phänomens. Schließlich findet die römische Welt auch unter gestandenen Männern und Greisen ihre Follower, und bei dieser Klientel spielen Bizepsfragen und Schwertlängen im Allgemeinen keine Rolle mehr. Stattdessen tritt ein anderer Aspekt der Geschichte Roms in den Vordergrund.
Denn das Imperium der Cäsaren ist untergegangen, und über die Ursachen seines Zusammenbruchs wird seit Jahrhunderten diskutiert, vor allem in Europa und Amerika, den Ländern des neuzeitlichen Westens, der nach dem Ende des Mittelalters aus der Konkursmasse des weströmischen Reiches herauswuchs. Aus dieser Perspektive gesehen, ist Rom kein ermutigendes Vorbild, sondern ein ferner Spiegel, in dem sich die Zukunftserwartungen und -ängste der jeweiligen Gegenwart dunkel abzeichnen.
Peter Heather und John Rapley sind zwei Angehörige der Boomergeneration, die nicht mehr aus Adoleszenzgründen über Roms starke Männer nachdenken müssen. Der Brite Heather hat in den Zweitausenderjahren zwei Standardwerke über das Ende des Imperiums und die Völkerwanderung veröffentlicht, der Kanadier Rapley publiziert seit drei Jahrzehnten über globale Wirtschaftsgeschichte und den ökonomischen Aufstieg der Schwellen- und Entwicklungsländer. Wenn beide sich zusammentun, um ein Buch zu schreiben, kann das nur bedeuten, dass sie ein gemeinsames Thema gefunden haben, und dieses Thema ist, wie der Titel „Stürzende Imperien“ unverblümt kundtut, der Untergang zweier Reiche.
Dort, wo Rom am Ende des vierten Jahrhunderts nach Christus stand, so kann man die These des Buches zusammenfassen, steht heute der Westen: kurz vor dem Fall. Die Frage für Heather und Rapley ist dabei nur noch, wie dieser Sturz sozialverträglich ausgestaltet und seine Hinterlassenschaft in „ein postkoloniales Erbe echter Größe“ überführt werden kann, ein System, dessen „Gewinne potentiell kolossal“ sind.
Bevor sie zu dieser Diagnose (und den damit verbundenen politischen Empfehlungen) gelangen, müssen die beiden Autoren jedoch erst einmal ihren Vergleich auf den Weg bringen und dabei die krummen Linien der Weltgeschichte ziemlich rabiat zurechtbiegen. Der „Westen“ des Kolonialzeitalters und der ihm folgenden Globalisierung ist ein Gemenge von einander bekämpfenden, erbittert um Hegemonie ringenden Regionalmächten; bei Heather und Rapley dagegen erscheint er als geschlossen agierender imperialistischer Block. Die heutige Vorherrschaft der USA wurde in zwei blutigen Weltkriegen auf europäischem und asiatischem Boden erkämpft; den Autoren von „Stürzende Imperien“ ist ihre Entstehung kaum eine Fußnote wert.
Und wenn von der Weltmacht Rom die Rede ist, wird das zur gleichen Zeit mächtige China der Han-Kaiser konsequent ausgeblendet. Stattdessen setzen die beiden Wissenschaftler das heutige China mit dem seinerzeit aufstrebenden persischen Sassanidenreich gleich, obwohl dieses nur an der römischen Ostgrenze kratzte, während der chinesische Wirtschaftsboom seit 1990 das amerikanische Imperium in seiner Kernfunktion als globale ökonomische Vormacht bedroht.
Anders gesagt: Der Vergleich zwischen Rom und dem industrialisierten Westen, den Heather und Rapley ziehen, steht historisch auf schwachen Füßen. Genau genommen stützt er sich auf eine einzige strukturelle Überlegung: Großreiche verlagern bei ihrer gewaltsamen Ausdehnung militärische und ökonomische Kräfte vom Zentrum an die Peripherie und knüpfen Handelsnetzwerke jenseits ihrer Grenzen.
So brachte Rom seine spanischen, gallischen, pannonischen und syrischen Provinzen zum Blühen, während es die barbarischen Eliten jenseits von Rhein und Donau mit Luxusgütern fütterte und zugleich als Auxiliartruppen in seinen Heeren kriegerisch ertüchtigte. Als mit dem Einfall der Hunnen dann ein „exogener Schock“ die Barbaren traf, überquerten diese in Massen die Grenzflüsse und zerrissen auf ihrer Wanderung das staatliche Gewebe des westlichen Reichsteils.
Die Peripherie floriert, das Zentrum stagniert
Etwas Ähnliches, behaupten Heather und Rapley, geschah in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als Nordamerika und Westeuropa, die bis dahin den Großteil des globalen Wohlstands erzeugt und auch verbraucht hatten, ihre industriellen Kapazitäten in die Schwellenländer Mittel- und Südamerikas und Südostasiens auslagerten – nach Mexiko, Brasilien, Indien, Thailand, Taiwan, Südkorea et cetera. Die globale Peripherie begann zu florieren, während das Zentrum stagnierte; die Produktivkraft des Westens ging zurück, die des Südens und Ostens wuchs. Nur geschah dies alles eben auf unblutige, nicht invasive, rein ökonomische Art. Aber das Resultat, so unsere beiden Historiker, könnte für das Imperium des Westens auf mittlere Sicht das gleiche sein: Entstaatlichung, Verarmung, Bevölkerungsschwund, soziale Zerrüttung und Kulturverfall.
Doch wo bleibt in diesem Szenario der „exogene Schock“, der die römische Zivilisation zerstört hat? Heather und Rapley bieten verschiedene Kandidaten an: die Finanzkrise von 2007/8, der Aufstieg Chinas, die Corona-Pandemie, der russische Krieg gegen die Ukraine. Die große Auswahl zeigt bereits, wie wenig sie die Sache durchdacht haben. Selbst wenn man alle Faktoren zusammenzählt, ergibt sich daraus kein Schockmoment, der mit dem Hunneneinfall vergleichbar wäre. Die Invasion aus der Steppe traf das Römische Reich in seiner militärischen Substanz, die ökonomische Machtstellung des Westens – zu dem die Autoren plötzlich auch Japan zählen – ist dagegen schlimmstenfalls angekratzt, ein Kollaps nicht in Sicht.
Weil der Vergleich zwischen Rom und „uns“ aber an dieser entscheidenden Stelle hinkt, geht auch seine argumentative Durchführung in wesentlichen Punkten daneben. Etwa bei den Folgen der Migration, die nicht wie bei den Römern aus der Peripherie, sondern aus den ökonomisch abgehängten Randzonen der Globalisierung stammt und deren Konfliktpotential im Zeitalter religiöser Fundamentalismen erst gar nicht diskutiert wird. Oder bei der neuen Weltmacht China, die bei Heather und Rapley kontrafaktisch als militärischer Riese erscheint – die Amerikaner haben elf Flugzeugträger, die Chinesen zwei –, während die Atommacht Russland konsequent verniedlicht wird.
Schließlich sticht bei allen strukturellen Ähnlichkeiten im Detail immer wieder der fundamentale Unterschied zwischen Rom und der Moderne ins Auge. Damals ging es um Land und Sklaven, heute geht es um Profite und Jobs. Produktivkräfte lassen sich vermehren, Landbesitz nicht. Das Römische Reich hatte schon im zweiten Jahrhundert nach Christus die Grenzen seines Wachstums erreicht, die globale Ökonomie expandiert weiter.
Verarmung, Überalterung, überlastete Sozialsysteme
Aber es stimmt, dass die Bevölkerung der westlichen Industriestaaten überaltert ist, dass die Verarmung der Unterschichten fortschreitet und dass Regierungen immer öfter an der Aufgabe scheitern, die Kosten für Sozialsysteme, Infrastruktur, ökologischen Wandel und eine funktionierende Verwaltung aus dem Staatshaushalt zu finanzieren, während der Reichtum des obersten Zehntels der Gesellschaft unaufhaltsam wächst. In solchen Krisenlagen kommt nicht nur History-Channel-Abonnenten das alte Rom in den Sinn, und Akademiker wie Peter Heather und John Rapley fühlen sich ermutigt, aus ihrem Wissen über die Antike ein Instrument zur Erstellung von Voraussagen über die Zukunft zu machen. Nur sollte man realistisch einschätzen, wie weit man damit kommt. Das Buch von Heather und Rapley zeigt: nicht sehr weit.
Am Ende ihrer Studie machen die Autoren ein paar Vorschläge, die jeder sozial eingestellte Finanzpolitiker unterschreiben kann: Anhebung des Rentenalters, kontrollierte Zuwanderung, Investitionen in Bildung, Besteuerung großer Vermögen, verstärkte internationale Kooperation. Das alles klingt vernünftig und machbar. Aber um darauf zu kommen, muss man nicht an Römer, Goten und Vandalen denken. Es genügt, einen nüchternen Blick auf die Gegenwart zu werfen. Vergesst die Barbarenstürme! Lasst Rom in Frieden ruhen.