Es war ein dramatischer Auftakt zum großen Finale. Eine Woche vor der Präsidentenwahl in Amerika betrat Kamala Harris am Dienstagabend die Bühne eines Parks auf der Südseite des Weißen Hauses. Der Ort war bewusst gewählt: „The Ellipse“ verbindet den Amtssitz des Präsidenten mit der „National Mall“ auf der Höhe des Washington Monuments, von wo aus es nicht weit ist zum Kapitol. Von hier aus hatte Donald Trump am 6. Januar 2021 seine Anhänger aufgefordert, „friedlich“ zum Kongress zu ziehen, um „wie der Teufel zu kämpfen“.
Harris kam in ihrer Rede vor Tausenden von Anhängern gleich zum Punkt: Trump habe seinerzeit, nach der verlorenen Präsidentenwahl, „einen bewaffneten Mob zum Kapitol geschickt, um den Willen des Volkes umzustoßen“. Der Republikaner sei keiner, „der darüber nachdenkt, wie er Euer Leben verbessern kann“, rief sie. Er sei vielmehr jemand, „der instabil ist, besessen von Rache, verzehrt von Groll und auf unkontrollierte Macht aus“. Sodann: „Aber Amerika – ich bin heute Abend hier, um zu sagen: Das ist nicht das, was uns ausmacht.“
Die Großkundgebung in Washington sollte einen Kontrapunkt setzen zu alldem, für das Trump in Harris‘ Augen steht. In der Schlussphase des Wahlkampfs hat die in die Defensive geratene Vizepräsidentin ihre Strategie geändert: Nicht mehr „Freiheit“ und „Freude“ standen zuletzt im Vordergrund, sondern die „Gefahr für die Demokratie“, die von Trump ausgehe. Der Kundgebungsort sollte dies symbolisieren. Dass Harris während ihrer halbstündigen Rede vor dem erleuchteten Weißen Haus stand, war freilich ein erwünschter visueller Nebeneffekt.
Geschickt orchestrierter Kontrast zum 6. Januar
Vier Stunden hatten die Anhänger der demokratischen Präsidentschaftskandidatin in einer kilometerlangen Schlange anstehen müssen, um auf das Gelände zu gelangen. Als zwischenzeitlich das Einlasstor geschlossen wurde, kam Unruhe bei den Wartenden auf. Bevor eine Ordnerin die Lage erklären konnte, rief einer der Anhänger – Harris‘ Wahlkampfslogan aufgreifend – scherzend: „We are not going back“. Das musste er auch nicht. Das Tor wurde wieder geöffnet. Andere, die es tatsächlich nicht mehr auf die umzäunte „Ellipse“ geschafft hatten, versammelten sich auf dem Hügel unter dem Washington Monument, während die Washingtoner Herbstsonne langsam unterging.
Der Kontrast zu damals hätte nicht größer sein können. Der 6. Januar 2021 war ein grauer Wintertag. Noch bestimmte die Pandemie das Leben. Was freilich die Trump-Anhänger seinerzeit auf der „Save-America“-Demonstration nicht störte. Kaum einer trug eine Maske. Dafür erschien man in Militärkleidung. Viele führten Waffen bei sich, weshalb sie vom Secret Service nicht bis zur „Ellipse“ vorgelassen wurden, wo Trump hinter einer schusssicheren Glasscheibe sprach. Eigentlich wollte er seinerzeit mit dem Mob zum Kapitol ziehen. Doch sein Personenschutz, der Secret Service, spielte nicht mit. Anwesende berichteten später, Trump sei kurzzeitig handgreiflich geworden. Es nützte nichts. Man fuhr zurück zum Weißen Haus.
Harris erinnerte am Dienstagabend daran, dass der unfreiwillig scheidende Präsident dann im West Wing am Fernseher die Erstürmung des Kapitols verfolgt habe. Als seine Leute ihm sagten, seine Anhänger wollten seinen Vizepräsidenten Mike Pence töten, der entgegen seiner Anweisung Joe Bidens Wahlsieg zu beglaubigen beabsichtigte, entgegnete er: „Na, und?“ Im Publikum ertönten immer wieder Buhrufe, als Harris an diesen dunklen Tag in der amerikanischen Geschichte erinnerte. Mehrere Menschen seien getötet worden. Und 140 Polizisten verletzt. Auch daran erinnerte Harris.
Dann wandte sich die Kandidatin der Demokraten der Gegenwart zu: Für den Fall eines abermaligen Wahlsieges habe Trump eine „Feindesliste“ mit Namen von denjenigen, die er strafrechtlich verfolgen wolle. Eine seiner Prioritäten sei es, nach einer Amtsübernahme die Gewalttäter von damals, die inzwischen verurteilt seien, wieder freizulassen. „Donald Trump hat ein Jahrzehnt lang versucht, das amerikanische Volk zu spalten und in Angst voreinander zu versetzen.“ Damit müsse Schluss sein. „Es ist an der Zeit, dass wir das Drama und den Konflikt, die Angst und die Spaltung hinter uns lassen“, forderte Harris.
Biden wird auf Abstand gehalten
Die Vizepräsidentin kam nun auf sich selbst zu sprechen: Es sei an der Zeit für eine neue Führungsgeneration in Amerika. „Ich verspreche, eine Präsidentin für alle Amerikaner zu sein und das Land immer über die Partei und mich selbst zu stellen.“ Sie wolle Kompromisse suchen und mit gesundem Menschenverstand Lösungen finden. Sie werde auch jenen zuhören, die nicht ihrer Meinung seien und die ihr nicht ihre Wählerstimme gäben.
Einer fehlte auf der Kundgebung am Dienstagabend: der Amtsinhaber. Harris sucht im Wahlkampf die Distanz zu Biden, ohne inhaltlich vom Präsidenten abzurücken. Für Schlagzeilen sorgte der scheidende Präsident dennoch. Mit Blick auf Trumps Kundgebung im New Yorker Madison Square Garden am Sonntag, wo ein Redner Puerto Rico, ein amerikanisches Außenterritorium, als „Müll-Insel“ bezeichnet hatte, sagte Biden in einer Schaltkonferenz, den einzigen Müll, den er sehe, seien Trumps Anhänger. Das Weiße Haus und Biden selbst sahen sich später veranlasst, klarzustellen, dass die hasserfüllte Sprache auf der Kundgebung gemeint gewesen sei – nicht aber Trumps Wähler.
Der Republikaner selbst äußerte sich am Dienstag auch zu der Kundgebung in New York: Es sei „ein Fest der Liebe“ gewesen, sagte er. Und es sei ihm eine Ehre gewesen, ein Teil davon zu sein.