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Wer sind wir? Wie die Identitätsfrage Deutschlands Zukunft mitbestimmen wird


Deutschland hat sich verändert und ein Ende des Prozesses ist nicht in Sicht. Es könnte nun eingewendet werden, dass der stetige Wandel schlicht ein Teil der Existenz und des Lebens ist. Entwicklung gab es schon immer, wird es immer geben, wenig ist starr und Anpassung bleibt eine grundlegende Fähigkeit des Menschen.

Doch die aktuelle Transformation, sei es die technologische, politische, gesellschaftliche, ökologische oder ökonomische, die bereits vor über einem Jahrzehnt begonnen hat, ist keine langsame Veränderung, sondern weist eine solche Dynamik und Geschwindigkeit auf, dass eine Akklimatisation oder gar Steuerung immer schwerer fällt. Es ist eine, die das Gestern immer schneller vergessen lässt und teilweise überfordernd wirkt – auf den Einzelnen, auf Gemeinschaften, auf ganze Staaten.

Wir erleben einen Zeitenwandel, der einen weltweiten Neuordnungsvorgang ausgelöst hat. Einen, der die globalen Kräfteverhältnisse in den nächsten Jahren reorganisieren wird und sich in fünf Herausforderungsbereiche untergliedern lässt, die sich stetig gegenseitig beeinflussen: 

  • Der Aufstieg neuer Konkurrenten auf den Weltmärkten sowie deren geopolitischen Ambitionen
     
  • Die Schwäche der westlichen Welt, deren freiheitlich–liberales Modell doch nicht das Ende der Geschichte darstellt
     
  • Der Umgang mit dem technologischen Fortschritt
     
  • Die Veränderung der Umweltbedingungen
     
  • Fehlende Perspektiven für einen Teil der Weltbevölkerung

Im Spannungsfeld dieser Wechselwirkungsfaktoren gestaltet sich rasend die neue Zeit und kennt in ihrer Konsequenz nur noch wenige Grenzen. Sie macht auch nicht vor dem Privaten halt, gibt oft keine Zeit mehr, sich langsam anzupassen, nimmt Sicherheit und hinterfragt nicht selten das, was als normal und üblich empfunden wurde.

Zweifellos ein gigantisches Themenfeld, mit dem sich nun ganze Bücher füllen lassen würden, denn jede Facette verdient eine intensive Betrachtung und doch soll sich im Moment, man möge es verzeihen, auf einen Einzelaspekt konzentriert werden.

Andreas Herteux ist ein deutscher Wirtschafts- und Sozialforscher, Publizist und der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft. Herteux ist zugleich Herausgeber und Co-Autor des Standardwerks über die Geschichte der Freien Wähler (FW). Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

 

Was macht Veränderung mit dem Individuum?

Welchen? Nun, die Bedeutung der Veränderungen für die Identität des Individuums, denn der Wandel führt nicht selten zu einem unbehaglichen Gefühl und als Folge immer wieder zu einer entscheidenden Frage: Wer bin ich?

So banal dieser Satz auch klingen mag, so entscheidend könnte er die Zukunft des Landes mitprägen. Doch blicken wir zuerst auf die Gesamtumstände.

Lebenswirklichkeiten zerbrechen, Menschen entfremden

Der Zeitwandel wirkt direkt und indirekt auch auf die deutsche Gesellschaft. Als Konsequenz zersplittern sie, wissenschaftlich messbar, in immer kleinere Lebenswirklichkeiten.

Jede dieser kleinen neuen Gesellschaften, in der Regel „Milieu“ genannt, hat eigene Vorstellungen von einem richtigen und guten Leben. Eigene Normen, individuelle Verhaltensmuster sowie abweichende Wertevorstellungen. Hedonisten, die primär Spaß und Genuss suchen, haben andere Ziele als Prekäre, bei denen es teilweise um die nächste Mahlzeit geht. Traditionelle oder Sozio–Ökologische präferieren völlig unterschiedliche Lösungen für Probleme. Man nehme hier die Energiewende, Abschiebungen oder die Gendersprache als Stichworte.

Die großen Herausforderungen der Migration kommen noch hinzu. Auch hier mögen zahlreiche neue Milieus entstanden sein; gemessen hat man sie noch nicht, einige machen sich aber bereits auf den Straßen bemerkbar. Es gibt zudem die Tendenz zur immer spezifischeren Identitätspolitik, also zur bewussten Absonderung und Lebenswirklichkeitsbildung.

 

Das Netz prägt Teile der Persönlichkeit

Garniert wird das Ganze noch mit Einbettung und Individualisierung durch verhaltenskapitalistische Online–Mechanismen.

Letzteres wirkt sowohl schöpfend als auch treibend, d. h. einerseits werden neue Lebenswirklichkeiten geschaffen, andererseits sowohl der gesamtgesellschaftliche Zersplitterungsprozess dynamisiert, sowie die Selbstüberzeugung von einzelnen Milieus gestärkt.

Grundsätzlich ist die Aussage, dass die Online–Welt einen großen Einfluss auf die Persönlichkeit oder das Verhalten im Besonderen von jungen Menschen hat, wohl nicht allzu gewagt. Anerkennung, Würde, Belohnung, etwas Besonderes sein – all das findet sich dort häufig schneller sowie intensiver als im realen Leben.

Prägend, vielleicht sogar mehr als Schule oder Eltern. Bis heute wissen wir nicht wirklich, wie wir mit diesen Folgen des technologischen Fortschritts umgehen sollen. Wir lassen es geschehen und zeigen uns dann erstaunt, dass nicht wenige Vertreter der Generationen, die nativ diesen Reizen ausgesetzt sind, zum Homo stimulus geworden sind oder völlig andere Ansprüche an das Leben haben, als es ihre Vorfahren gewohnt waren.

Zeitalter des kollektiven Individualismus

Das 21. Jahrhundert ist daher in der westlichen Welt der Triumph des kollektiven Individualismus, einer Form der Selbstentfaltung, die jedoch immer in einem bestimmten, in der Regel für alle gleichen, aber zumeist unsichtbaren, Rahmen verläuft. Online sowie offline. Selbstentfaltung in geregelten, aber kaum wahrnehmbaren Bahnen.

Dieser Vorgang kann auch Menschen entfremden, deren Persönlichkeitsbildung schon grundsätzlich abgeschlossen war. Geraubte Sicherheit, Verlust des Gewohnten, Kritik an der eigenen Lebensweise und Denkmuster, wirtschaftliche Probleme, Jobverlust usw. – Identität ist ein multidimensionaler Begriff.

Derartiges führt nicht selten zu Wut, Frustration, Unversöhnlichkeit, Dekonstruktion, Delegitimierung und Milieukämpfen. Ein Prozess, der das einende Band der Gesellschaft schwächt und damit auch einst identitätsstiftende Elemente wie die freiheitlich–demokratische Ordnung, das Versprechen des Aufstiegs durch eigene Leistung oder das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Selbstverständlichkeiten, die nun, je nach Milieu oder Konditionierung, immer weniger zählen. Es betrifft nicht alle, aber genug, um destabilisierend zu wirken.

Wandel zwingt Identitätsfrage auf

Zurück bleiben zu viele Menschen, deren Wirklichkeit sich radikal gewandelt hat. Häufig noch, die Wahlergebnisse zeigen es, nicht zum Besseren. Eine fatale Entwicklung, denn der Mensch benötigt Orientierung sowie Sicherheit, um seine Identität zu behalten oder erst zu entwickeln. Fehlt diese, so entsteht eine Eigendynamik, die irgendwann nicht mehr kontrollierbar ist. 

Nehmen wir das Beispiel Migration, das an dieser Stelle sicher am plakativsten ist. Sie ist, und dies ist wichtig, hierbei nicht die Ursache der Identitätskrise, sondern ein Brennglas, das auf die wachsende Entfremdung und die Herausforderungen der Integration verweist. Ein Katalysator.

Deutschland hat mit der Migration auch religiöse, weltanschauliche sowie politische Prägungen, Überzeugungen sowie Konflikte importiert und verliert teilweise auch die Folgegenerationen von längst integrierten Einwanderern an oftmals bereits überwunden geglaubte Muster. Das ist eine bittere Tatsache.

Kamen einfach Menschen aus den falschen Kulturkreisen? Das ist zu einfach. Die gleichen Debatten, die wir in Deutschland zu lange vermieden haben, werden beispielsweise sehr offen in den USA geführt. Dort kommt ungefähr die Hälfte der Migranten aus Süd– und Mittelamerika. Trotzdem sind die Probleme und Klagen ähnlicher Natur. Überall in der westlichen Welt.

Springen wir ein wenig in der Zeit zurück. In Westdeutschland hatte man mit der ersten Generation der Gastarbeiter wenig Probleme im Bereich der kulturellen Identität. Gerne vergisst man heute, dass 1961 gerade einmal 700.000 Ausländer in Deutschland lebten, während es 1974 bereits über 4 Millionen waren. Auch dies ist ein gewaltiger Zuwachs, wenngleich auch ein gesteuerter und regulärer – ein Unterschied, der erwähnt werden sollte, denn ihre Rolle wurde in der Regel klar definiert und sie haben sie auch angenommen.

Tatsache ist, dass Menschen sich eigene Narrative, Identitäten suchen oder schaffen, wenn keine solche Rollenvorgabe oder andere attraktive Angebote vorliegen. Dass diese dann nicht selten in der eigenen oder familiären Vergangenheit gesucht darf niemanden überraschen. Plötzlich spielt der Glaube wieder eine Hauptrolle, Clanstrukturen bieten Sicherheit, die Diktatur, in der man womöglich nie gelebt hat, wird hochgelobt oder aber man fällt auf den erstbesten Verführer im Internet herein.

Deutsche Gesellschaft bietet keine Orientierung

Es mag nicht opportun sein dies auszusprechen, aber die Empirie zeigt, dass die heutige heterogene Gesellschaft in Deutschland ein solches Angebot nicht machen kann, oder, es gibt bekanntlich auch Denkrichtungen, die an ein nebeneinander der Unterschiedlichkeit glauben, dies vielleicht gar nicht will. Es gibt kaum Orientierung, die Herz und Verstand gleichermaßen ansprechen. Und das gilt oft nicht nur für jene, die nicht im Lande geboren sind. Was bleibt den Menschen daher übrig, als selbst auf die Suche zu gehen oder sich von attraktiven Alternativen überzeugen zu lassen?

Identitätssuche kann das Geschichtsbild verändern

Verdrängen wir das Thema Migration und wagen einen erneuten Blick über den großen Teich. In der schwarzen Community macht sich seit einigen Jahren ein Trend zum Afrozentrismus breit. Das ist der Versuch, die Geschichte identitätsbildend umzuschreiben. Und so wechseln Jesus, Beethoven oder Sokrates in den vielen Erzählungen die Hautfarbe.

Komplette Kulturen wie die der Ägypter, Sumerer oder auch Wikinger werden als originär schwarzafrikanisch betrachtet. Die Geschichte wäre durch die weißen Imperialisten verfälscht worden. Die Möglichkeit der Bilderzeugung durch KI macht es heute leicht, entsprechendes Beweismaterial zu erzeugen und für nicht wenige genügt dies, um dem eigenen Leben eine neue Perspektive zu geben. Auch mancher Streamingdienst baut inzwischen Elemente des Afrozentrismus in die Eigenproduktionen ein.

Das kann man belächeln, allerdings existiert nur die verfestigte Geschichte in den Köpfen und Herzen der Menschen. Zudem sollte es nachdenklich machen, denn offenbar gibt es eine beachtliche Anzahl von Afro–Amerikanern, die um eine Identität förmlich ringen und für die manch Kurioses irgendwann unumstößliche Wahrheit wird. 

Und ja, es sei klargestellt der Wunsch nach Sichtbarkeit und Gleichberechtigung ist legitim wie zu erfüllen, der nach Vorrang und Anpassung der Wirklichkeit im eigenen Sinne allerdings nicht. Er ist konfliktbedingend.

Wie viele Milieus, wie viele Gruppierungen in Deutschland ringen ebenfalls um Respekt, Anerkennung und sind auf der Suche nach einem Sinn? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch hier vergleichbare Phänomene vermehrt offen auftauchen werden.

Identitätsprobleme typisch für Zeitenwandel

Nutzen wir aber noch ein anderes Szenario. Auch im 19. Jahrhundert gab es im Sog der industriellen Revolution ebenfalls einen globalen Zeitenwandel. Entwurzlung war nicht selten die Folge.  Die alte Welt ging für viele unter, neue Milieus wie das der Arbeiter entstanden. Die Identität wandelte sich.

Zur damaligen Zeit, man vergesse nicht, dass die Umwälzung der Produktionsverhältnisse lange vor der Reichsgründung begann, existierten allerdings große und kleine Ideen, die sich als einigendes Band eigneten.

Dazu gehörten der Nationalismus, der Sozialismus, zarte demokratische Ansätze, Rechtstaatlichkeit oder auch die Religion. Teilweise konkurrierten sie auch. Im Übrigen, und hier können wir eine Brücke zum Afrozentrismus schlagen, gab es auch okkult–obskure Strömungen, wie die Theozoologie eines Lanz von Liebenfels oder die Theosophie einer Helena Blavatsky, die der Modernisierung mythisch–magische Lehren zur Selbstentfaltung entgegensetzen. Das waren keine Hauptströmungen, allerdings typische Produkte eines Zeitenwandels, die heute längst vergessen sein dürften.

Am Ende waren es die großen Ideen, welche die Menschen zumindest in Teilen, eine homogene Gesellschaft gab es natürlich in der deutschen Geschichte nie, zusammenführten und nicht die Sektierer. Vielleicht sogar so sehr, dass die ganz großen Konflikte erst möglich wurden. Zwei Weltkriege zeugen davon, dass nichts vor Missbrauch gefeilt ist. Trotzdem ist die identitätsbildende Wirkung nicht zu leugnen.

 

Die einenden Ideen existieren nicht mehr

Heute sind die großen Gedanken nicht vorhanden und die kleinen Gedanken der Identitätspolitik, dominieren. Ja, wir haben solche einigenden Ideen nicht mehr. Die westliche Welt hat, vermutlich irgendwann mit dem Untergang der Sowjetunion das Denken eingestellt. Das Ende der Geschichte. Das freiheitliche System hatte doch gewonnen? Oder in Wahrheit doch nur die wirtschaftliche und militärische Überlegenheit des Westens, die nun nachlässt?

Die Identitätssuche ist ein zentrales Thema unserer Gesellschaft und versteckt sich in sehr vielen Themen. Mal versteckter, mal schlicht zu offensichtlich.

Sie ist da, wenn wir über Bürgergeldempfänger reden, die angeblich nicht arbeiten wollen. Wenn wir über die anspruchsvolle Generation Z sprechen und auch, wenn wir uns beklagen, dass das Dorffest von immer weniger Menschen besucht wird.

Identität und Identifikation können aber, zumindest teilweise, bewusst beeinflusst werden und das geschieht, jenseits von Partikularinteressen, zu wenig. Es fehlt das einende Band.

Welcher einende Rahmen?

Doch welcher identitätsstiftenden Rahmen soll 84 Millionen Menschen zusammenbringen? Das ist eine ganz konkrete Frage, die von einer solch überragenden Bedeutung ist, dass sie nicht mit den üblichen Floskeln abgetan werden darf. Die Realität und die offenkundige Entwicklung verdeutlichen, dass es diesen nicht im ausreichenden Maße für eine angemessene Anzahl von Milieus und Individuen gibt. Die freiheitlich–demokratische Grundordnung mit dem oft postulierten Verfassungspatriotismus ist nicht mehr stark genug. Die Idee einer deutschen Leitkultur trifft auf endlose Debatten, leeres Geschwätz und Widerstand.

Wir bräuchten daher eine große Debatte darüber, wer wir sind und was wir sein wollen. Einen neuen Gesellschaftsvertrag. Identitätsstiftende Normen, die auch mit Emotionen transferiert werden.  

Wir müssen als Gesellschaft wieder intellektueller werden und Ideen für unsere Zukunft entwickeln.

Gelingt dies nicht, werden sich, in Zeiten des kollektiven Individualismus, immer mehr Menschen eigene Wirklichkeiten und Identitäten suchen oder gar erschaffen.

Das Risiko, dass daran das Leben, das wir kennen, final daran zerbricht ist hoch. Zu hoch. Wollen wir es eingehen? Es obliegt dem Einzelnen, den Milieus und der Gesamtgesellschaft, diese Frage für sich zu beantworten.





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