Eine Entscheidung zwischen Krieg und Frieden, zwischen EU und Russland – Regierung und Opposition in Georgien beschreiben die Parlamentswahl heute als Schicksalswahl. Viele Menschen sorgen sich hingegen um ihre wirtschaftliche Lage.
“Noch zwei Tage und zwei Stunden, bis Georgien frei ist!”, schrieb eine Politikerin der Oppositionspartei Droa (Übersetzt: Es ist Zeit!) am Donnerstag bei X. In der Zivilgesellschaft und in der liberalen Opposition ist die Hoffnung groß, dass die Parlamentswahl das Ende der Regierungspartei Georgischer Traum an der Macht herbeiführt.
Als Argumente führen sie die Teilnehmerzahlen bei Protesten gegen die Regierung an. Zuletzt nahmen am 20. Oktober Zehntausende an einer Demonstration für den Weg Georgiens in die EU teil. Umfragen zeigen seit Jahren stabile Zustimmungsraten von 80 Prozent für einen EU-Beitritt.
Entsprechend beschreibt die liberale Opposition die Abstimmung zum Parlament als Schicksalswahl zwischen der EU und dem nördlichen Nachbarn Russland, dem sich die Regierungspartei von Geschäftsmann Bidsina Iwanischwili verschrieben habe. Er hatte sein Vermögen in den 1990er-Jahren in Russland gemacht und erweckt in seinen Reden den Eindruck, als wolle er Machthaber Wladimir Putin entgegenkommen. Außerdem ließ er ein Gesetz über “ausländische Einflussnahme” gegen zivilgesellschaftliche Organisationen verabschieden, das es so ähnlich seit 2012 in Russland gibt.
Dem Westen wirft Iwanischwili vor, Georgien in einen Krieg gegen Russland treiben zu wollen, nur seine Partei könne den Frieden bewahren. Er rührt damit an tiefe Ängste in der Bevölkerung. Sein Ziel: die verfassungsgebende Zweidrittelmehrheit für den Georgischen Traum im Parlament.
Hochrangige Mitglieder seiner Partei warnen, die Opposition wolle mit Rückendeckung des Westens einen Umsturz herbeiführen. Die Opposition befürchtet Wahlmanipulationen, sie beklagt Druck auf regierungskritische Wähler und Angriffe auf ihre Politiker.
Hohe Unzufriedenheit mit allen Parteien
Unklar ist, wie die Stimmung in der Bevölkerung tatsächlich ist. Regierungsnahe und oppositionelle Medien veröffentlichen Umfragen, die Mehrheiten jeweils für ihre Seite sehen. Das seriöse Institut Caucasus Resource Research Center (CRRC) veröffentlichte zuletzt vor einem Jahr entsprechende Daten. Damals sagten 62 Prozent, keine der Parteien vertrete ihre Interessen. 52 Prozent fühlten sich nicht von den Parlamentsabgeordneten vertreten.
In einer Vorwahl-Studie eines nach dem verstorbenen US-Senator John McCain benannten US-Institutes wird von unveröffentlichten Umfrageergebnissen überparteilicher Organisationen berichtet, laut denen die Regierungspartei mit einer “gesunden Mehrheit” rechnen kann. Benannt wird das Problem, dass sich die liberalen Parteien trotz einer Fünf-Prozent-Hürde nicht zu einem Block zusammengeschlossen haben.
Vielmehr gibt es zwei Gruppen von Parteien mit Politikern der ehemaligen Regierungspartei UNM von Ex-Präsident Michail Saakaschwili, der unter anderem wegen Machtmissbrauchs in Haft sitzt. Daneben gibt es ein Bündnis, die sich neutral zwischen den beiden politischen Polen gibt, des weiteren die Partei “Für Georgien” des ehemaligen Premierministers Giorgi Gacharia. Die Regierung hat sie alle zu Gegnern erklärt und droht ihnen mit Verbot.
An den Sorgen der Menschen vorbei
Was seriöse Umfragen seit Jahren zeigen: Sämtliche Parteien vernachlässigen die Themen, die für die Menschen zählen – ihre wirtschaftliche und soziale Lage. Iwanischwilis Partei hat nur wenig an der von Saakaschwili durchgeführten massiven Deregulierung geändert. Auch die langwierige Umsetzung des 2016 in Kraft getretenen EU-Assoziierungsabkommens hat bislang wenig vor allem im Arbeitsleben verbessert.
Das zeigt sich an immer häufigeren Streiks. Am Donnerstag beendeten Einwohner des Dorfes Schukruti ihre wochenlangen Proteste und Hungerstreiks – ergebnislos. Sie hatten dagegen protestiert, dass ihr Dorf infolge von Bergbautätigkeiten zerfällt und sie nicht einmal Kompensationen erhalten. Die Regierungspartei willigte schließlich eine Woche vor der Parlamentswahl in eine Vermittlung mit dem Bergbauunternehmen ein, zu einer Einigung kam es aber nicht. Die Dorfbewohner verließen frustriert die Hauptstadt.
EU in schlechtem Licht
Im Juli gingen zahlreiche Mitarbeiter des schwedischen Casino-Betreibers Evolution Georgia für bessere Arbeitsbedingungen und gegen die sexistische Haltung der Geschäftsleitung in Streik. Als die schwedische Botschaft in Georgien in einem Facebook-Post das Unternehmen für dessen Arbeitsbedingungen lobte, sorgte dies für heftige Empörung. Auch bei anderen europäischen Unternehmen im Service-Sektor wie dem Essenslieferanten Bolt aus Estland gibt es häufig Streiks wegen geringer Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen.
Für den dritten wichtigen Sektor in Georgien, die Landwirtschaft, ist die EU ein schwieriger Markt. Selbst die Hersteller des weithin beliebten georgischen Weins haben es auf dem gesättigten europäischen Markt schwer. Leichter – und mit weniger Qualitätsanforderungen – lässt sich Wein nach China und Russland verkaufen.
Deshalb fallen Warnungen der Regierungspartei auf fruchtbaren Boden, dass die pro-europäischen Parteien Sanktionen gegen Russland verhängen könnten, obwohl diese es so gar nicht angekündigt haben. Allerdings gehen die liberalen Parteien auch nicht mit überzeugenden Konzepten zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage auf die Wähler zu.
Wahlausgang offen
Angesichts der hohen Unzufriedenheit mit allen Parteien und der großen Unentschlossenheit unter den Wählern scheint der Ausgang offen – und ist schon vor der Öffnung der Wahllokale umstritten, da die Regierungspartei einerseits und andererseits die liberale Opposition inklusive Staatspräsidentin Salome Surabischwili die Niederlage des jeweiligen Gegners vorhersagen und andere Ergebnisse nicht akzeptieren wollen.
Aussagen von Seiten der Regierung lassen darauf schließen, dass Proteste mit Gewalt niedergeschlagen werden sollen. Iwanischwili hat ein juristisches Vorgehen nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse in Deutschland angekündigt.
Ausländische Einflussnahme
Zu rechnen ist deshalb mit einer unruhigen innenpolitischen Lage, die ausländische Einflussnahme vereinfachen würde. Mehrfach äußerte sich der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, Sergej Naryschkin, zur anstehenden Wahl in Georgien. Er warf den USA vor, sie wollten eine weitere Amtszeit des Georgischen Traums verhindern. Im August erklärte er, Russland werde eine weitere “farbige Revolution” verhindern, wie es zu Beginn der 2000er-Jahre mehrere in der Nachbarschaft Russlands gab. Das US-Außenministerium wies dies kategorisch zurück.
Investigativjournalist Christo Grozev berichtete nun, dass er gehackte Nachrichten des SWR erhalten habe. Darin würden “radikale Maßnahmen” vorgeschlagen, um einen mit friedlichen Protesten herbeigeführten Machtwechsel wie in Armenien im Jahr 2018 zu verhindern. Worin diese Maßnahmen bestehen sollen, wird Grozev zufolge nicht näher ausgeführt. Er rechne mit einem brutalen Vorgehen wie in Belarus. Auch Oppositionspolitikerinnen in Georgien haben schon Sorgen vor einem Szenario wie in Belarus geäußert.