Wir haben die Wahl zwischen zwei landschaftlichen Extremen und müssen uns zum Glück nicht entscheiden: Denn rechts schauen wir bis zum Horizont auf die grenzenlose zentralasiatische Steppe, links liegen die schneebedeckten Ausläufer des gigantischen Tian-Shan-Gebirges, das sich über 2500 Kilometer von China über Kasachstan und Kirgistan bis nach Usbekistan erstreckt. Stunden um Stunden fährt unser Zug durch dieses Panorama, das sich wie ein endloses Leporello entfaltet – auf der einen Seite Gipfel für Gipfel, von denen die meisten mehr als 3000 Meter, einige knapp 5000 Meter hoch sind, gegenüber der unermessliche Raum der Steppe, in dem der Blick nur selten einen Halt an einem Dörfchen oder einer Rinderherde findet.
Wir werden hypnotisiert von diesem Film mit Überlänge, der vor unseren Augen in den Waggonfenstern abläuft und von der behäbigen Geschwindigkeit des Zuges in Bewegung gesetzt wird. Es bleibt immer dieselbe Ebene, dasselbe Gebirge, die nicht enden wollende Gleichförmigkeit zweier gegensätzlicher, sich selbst kopierender Landschaften, die aber auch nach vielen Stunden nicht langweilig wird.
Unsere Bahnreise durch Zentralasien ist ein extravaganter Luxus. Das liegt allerdings nicht am Komfort des Orient Silk Road Express, dessen anspruchsvoller Name ein wenig falsche Vorstellungen wecken mag. Die Abteile dieses Sonderzuges sind gemütlich und plüschig orientalisch dekoriert, aber mit ihren zwei schmalen Schlafstätten und den Duschen und Gemeinschaftstoiletten am Ende der Waggons eher spartanisch ausgelegt. Die Abteile der gehobenen Kategorie besitzen immerhin ihr eigenes Bad. Es gibt keinen Salonwaggon mit dicken Sesseln, sondern zwei einfache Speisewagen mit Bordküche, in denen auf winzigem Raum ordentliche Mahlzeiten zubereitet werden. Ein Express ist dieser Zug auch nicht, trödelt er doch zwei Wochen lang mit durchschnittlich sechzig Kilometern pro Stunde durch die vier zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan. Und damit ist auch schon der wahre Luxus dieser Reise angedeutet.
Geduldig und ohne Hast sind es viele Reisen in einer: 4600 Kilometer durch eine unglaubliche Vielfalt an Landschaften und Kulturen, durch vier junge Staaten, die auf der Suche nach ihrem muslimisch-asiatischen Kern sind, dabei aber nur schwer ihre sowjetische Hülle ablegen können oder wollen und gleichzeitig mit westlichen Konsumansprüchen konfrontiert sind. Es ist deshalb auch eine Reise mit Zeitsprüngen in die jüngere und ältere Vergangenheit und dann auch immer wieder ein Unterwegssein, das sich durch seine Bewegung selbst genügt, zur Kontemplation verführt und uns manchmal im nächtlichen Gezuckel einfach nur mit uns selbst konfrontiert.
Während auf dem Land die Zeit vor fünfzig oder hundert Jahren stehen geblieben scheint, katapultieren sich die großen Städte mit aller Macht in eine seltsam ungewisse, islamisch kapitalistische Zukunft. Kleine, große und überdimensional pompöse Moscheen sprießen wie Pilze aus dem Boden, finanziert von Saudi-Arabien, Qatar oder der Türkei. Die kirgisische Hauptstadt Bischkek hat mit ihren vielen Parks und den wunderbaren, mit Pappeln gesäumten Boulevards noch am meisten vom eher heimeligen sowjetischen Charakter bewahrt. Aber auch hier wachsen am Stadtrand schon die Hochhäuser in die Höhe, eine Entwicklung, die in Almaty in Kasachstan oder in Samarkand in Usbekistan längst die Innenstädte erreicht hat. Der alltägliche Dauerstau auf den vier- bis sechsspurigen Straßen gehört selbstverständlich dazu. Die usbekische Hauptstadt Taschkent kämpft ebenfalls mit den Autos, die in zweiter und dritter Reihe die breiten Magistralen zuparken. Den Verkehrsinfarkt verhindert auch die phantastische Metro mit ihren dreißig thematisch und künstlerisch gestalteten Stationen nicht – jede eine Sehenswürdigkeit für sich.
Die Führungsposition beim überhasteten Wandel beansprucht Tadschikistans Hauptstadt Duschanbe. Hier krempelt der Bürgermeister, Sohn des schon drei Jahrzehnte lang regierenden Präsidenten Rahmon, die Stadt von Grund auf um; nichts soll bleiben, wie es war. Die harmonischen Zeilen zweistöckiger Häuser mit ihren verzierten Balkonen und zentralasiatischer Ornamentik aus der frühen Sowjetzeit, die den Rudaki-Boulevard säumten, sind fast alle verschwunden und haben Moscheen oder einfallslosen Geschäfts- und Wohntürmen Platz gemacht. Der einstige Basar wurde einfach ausradiert. An seiner Stelle steht ein pompöses Nationalmuseum mit exquisiten und hervorragend präsentierten Exponaten. Die Ausstellungssäle aber sind gähnend leer. Nebenan soll das größte Theater Mittelasiens aus dem Boden gestampft werden, doch nach fünf Jahren steht dort erst einmal die größte Bauruine der Region. Unfertige Gebäude im Stillstand oder im Wachsen sind über die ganze Stadt verteilt.
Eröffnet wurden schon eine neue Hauptmoschee, Präsidentenpalast und Parlament, drei gigantische Konstruktionen, die jedes urbane Maß sprengen. Triumphbögen, Siegessäulen, überdimensionale Denkmäler, ein riesiger Fahnenmast, der trotz Rosenpracht steril wirkende Rudaki-Park und eine abgeschottete Paradestraße verweisen auf das Ziel dieser wütenden Konstruktionsorgie: Hier baut ein autokratischer Familienclan eine monumentale Hauptstadt, die an das große Reich der Samaniden-Dynastie anknüpfen soll. Das ist zwar vor tausend Jahren untergegangen, in dessen verspäteter Nachfolge soll sich aber offenbar eine glorreiche, national-islamische Identität herausbilden. Wo dabei die meisten Menschen bleiben, sieht man einstweilen an der Plattenbau-Tristesse der Vorstädte, in den schäbigen Dörfern, an den Statistiken über Armut und Pressefreiheit oder besonders krass am vielspurigen Somoni-Boulevard, auf dem alte Frauen mit Kopftüchern und Reisigbesen für die vorbeifahrenden Luxusautos den Straßenrand säubern.
Wir nehmen schmerzlos Abschied von diesem seelenlosen Ort, steigen in unseren Zug und widmen uns wieder den grandiosen Landschaften und den banalen, aber oft sympathischen Szenen, die sich vor unserem Fenster abspielen. Bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof von Duschanbe winkt uns der Zöllner, der gerade noch streng und gewissenhaft die Pässe gestempelt hat, freundlich zu. Entlang der Strecke winken auch die Kinder, während im Bahnhof von Taschkent kaum jemand Notiz von uns nimmt. Die umherhastenden Fahrgäste des Hochgeschwindigkeitszuges aus spanischer Produktion halten den Orient Silk Road Express vermutlich für einen Anachronismus, der sie nichts angeht.
Rinder-, Pferde- und Schafherden sind auf dem Land unsere ständigen Begleiter, denn Fleisch ist nach wir vor das mit Abstand beliebteste Lebensmittel in Zentralasien. Anderswo haben Bauern Tausende von Zwiebelsäcken auf den Feldern gestapelt, die gerade von Lastwagen abgeholt werden. Wir überqueren den einst mächtigen Strom Syrdarja, der hier immerhin noch ein passabler Fluss ist, dem man aber ebenso wie seinem zentralasiatischen Bruder Amudarja so viel Wasser für die Bewässerung der Landwirtschaft abzapft, dass er sein Ziel im Aralsee nicht mehr erreicht. Das hat dem See fast vollständig den Garaus gemacht. Wo das meiste Wasser bleibt, zeigen uns die riesigen Baumwollfelder Usbekistans, die mit ihren weißen Puscheln dekorativ in der Sonne leuchten.
Anderswo sitzt ein einsamer Reiter mitten in der Steppe auf seinem Pferd, ein kleiner Junge hütet mit einem Reisigbesen eine Gänseschar. Weit weg vom nächsten Dorf schwenkt ein Bahnwärter vor seinem Häuschen zu später Stunde eine Laterne, während wir den Sternenhimmel bewundern und rätseln, was wohl in den spärlich beleuchteten Lehmhäusern vor sich gehen mag. Hin und wieder hält unser Zug im Nirgendwo, um irgendeine Staatsgrenze zu überqueren, und manchmal mehr, manchmal weniger rücksichtsvoll lassen uns die Grenzbeamten verschlafen oder träumend auf dem Bett sitzen, während sie die Pässe stempeln.
Dass der Zug nicht nur an den Grenzen, sondern oft auf freier Strecke oder in Bahnhöfen für kürzere oder längere Zeit hält, gehört zum gemächlichen Tempo der Reise dazu. Wasser muss getankt werden, Güterzüge wollen überholen, und auf einspurigen Schienensträngen warten wir den Gegenzug ab. Diese Momente des Innehaltens sollten eigentlich ausreichend Gelegenheit bieten, sich mit der Geschichte Zentralasiens zu befassen und unser rudimentäres Wissen über die Seidenstraße oder die militärischen Husarenritte von Dschingis Khan und seiner Mongolen-Armee zu erweitern. Aber das historische Getümmel in dieser Weltgegend überfordert uns einfach: mehr als 2000 Jahre Geschichte und Geschichten, Kriege und Schlachten, Herrscher und Weltreiche, Hochkulturen und Glau-bensrichtungen. Wer soll sie alle einordnen, die Reiche der Sogden, Hephthaliten, Samaniden, Qarachaniden und Dzhungaren, einst blühende Städte wie Afrosijob, Merv und Özgön, Tyrannen und Heerführer wie Spitamenes, Babur Schah und Muhammad Schaibani oder Gelehrte und Dichter wie Rudaki, Ferdausi, und Ibn Sina?
Gebiet von Konstantinopel bis Delhi
Wir warten deshalb auf die Erklärungen der einheimischen Führer, um wenigstens die Geschichte und Bedeutung jener Bauwerke zu verstehen, die wir in den Städten der historischen Seidenstraße besichtigen können. Und da steht Samarkand im Vordergrund, zusammen mit Buchara und Chiwa das legendäre Kernstück der Handelsroute, die von Xi’an in China bis zum Persischen Golf und zum Mittelmeer reichte. Sprachlos und unkundig stehen wir zunächst in Samarkand vor einer gigantischen Moschee, unter den goldenen Kuppeln von Mausoleen und zwischen drei prachtvollen Medresen, den ehemaligen Koranschulen am Hauptplatz Registan. Auf Fassaden, Gewölben, Minaretten und in Innenräumen staunen wir über ungeheuerliche Ensembles aus Mosaiken und Majolikas, eine dekorative Flut, die sich in kolossalen Mustern und Farbkombinationen ergießt. Wir erkennen erst einmal nur Quadrate, Rhomben, Kreuze und Swastikas und müssen uns erklären lassen, dass sich dieser monumentale geometrische Rausch mitnichten in abstrakten Formen erschöpft, dass darin vielmehr in stilisierter arabischer Kufi-Schrift Zitate aus dem Koran und unzählige Male das Wort „Allah“ erscheinen.
Dieser Überschwang an gigantischer Architektur und detailverliebter Handwerkskunst verdankt sich dem kriegerischen Fürsten Temür ibn Taraghai Barlas, auch Timur genannt, der am Ende des 14. Jahrhunderts das Reich des Dschingis Khan wieder erstehen lassen wollte. Auf mörderischen Feldzügen eroberte er ein Gebiet von Konstantinopel bis Delhi, von der Wolga bis zum Persischen Golf. Seine Armeen sorgten für eine Spur der Verwüstung und des Todes, aber Timur ließ auch aus allen Himmelsrichtungen Architekten, Handwerker und Künstler verschleppen, die sich zusammen mit Heerscharen von Sklaven an die Konstruktion der Prachtbauten machten – nicht nur in Samarkand, sondern auch in Buchara und Chiwa.
Hang zu imperialer Repräsentation
Später werden wir auch in Timurs Heimatort Schahrisabz dessen Hang zu imperialer Repräsentation erleben. Dort stand sein Palast Aq Saraj, der einst an Größe die Gebäude in Samarkand weit übertraf, allerdings nur noch als Ruine erhalten ist. Die Relikte des Eingangsportals sind immerhin 38 Meter hoch und dessen Wölbung lässt darauf schließen, dass es einst knapp doppelt so hoch war. Die Dekorationen sind ähnlich gestaltet wie in Samarkand, aber noch filigraner, und weil man hier auf eine Restaurierung verzichtet hat, erscheint die ganze Schönheit zwar verletzt, aber authentischer. So darf unsere Phantasie die Rekonstruktion dieses monumentalen Bauwerks übernehmen. Eine fünfeckige, zehn Kilometer lange und elf Meter hohe Stadtmauer dürfen wir uns dazudenken.
Von Timurs erfolgreichen Feldzügen profitierte auch sein Enkel Mirzo Ulugh Bek, der 1409 die Herrschaft übernahm, sich allerdings nicht dem Krieg, sondern der Wissenschaft und Religion verschrieb. Er ließ am Registan von Samarkand die drei Koranschulen errichten. In Hufeisenform umrahmten sie ein sandiges Areal, das als Versammlungsort und Handelsplatz diente. Mit ihren gigantischen Spitzbogenportalen, Kuppeln und Minaretten im einheitlichen architektonischen Muster sind sie bis heute das Aushängeschild der Stadt. Hier wurde nicht nur der Koran gelesen, sondern auch Wissenschaft vermittelt. Ulugh Bek versammelte Hunderte von Gelehrten, Astronomen und Mathematikern zum intensiven Studium des Weltalls. Dafür wurde ein dreißig Meter hohes Observatorium gebaut, ein Rundbau nach persischem Vorbild mit einem Sextanten, dessen außergewöhnliche Dimensionen besonders präzise Sternbeobachtungen und Messungen erlaubte. So konnten die Wissenschaftler damals schon eine Länge des Jahres ermitteln, die nur 58 Sekunden vom heute bestimmten Wert abweicht. Ein wissenschaftliches Juwel ist Ziji Jadidi Koragoni, das Meisterwerk von Ulugh Bek: In diesem astronomischen Kompendium finden sich mathematische Grundlagen, Daten zu Planetenbewegungen und die Positionen von mehr als tausend Sternen.
Vierzig Jahre lang dauerte diese einzigartige Blüte der Wissenschaft in Sa-markand, aber seine Leidenschaft wurde Ulugh Bek schließlich zum Verhängnis. Die Geistlichen sahen in der Astronomie eine Gefahr für die Religion, und der Herrscherclan musste wegen der Vernachlässigung des Militärs den langsamen Zerfall des Reiches mitansehen. Sein eigener Sohn ermordete Ulugh Bek und beendete das wissenschaftliche Treiben. Er ließ das Observatorium zerstören, dessen unterirdischer Teil mit einem Fragment des Sextanten allerdings erhalten blieb und 1908 wiederentdeckt wurde. Ein hervorragend gestaltetes Museum präsentiert die Leistungen der genialen, aber schließlich verfolgten Wissenschaftler im Umkreis von Ulugh Bek. Ihr astronomisches Standardwerk konnte von einem der Gelehrten heimlich nach Persien geschmuggelt werden, und von dort aus gelangte das Wissen bis nach Europa. Timurs Reich aber zerfiel so schnell, wie er es geschaffen hatte.
Ulugh Bek hingegen hinterließ auch in Buchara ein architektonisches Erbe, denn seine dort errichtete Medrese ist bis heute erhalten. Er legte damit den Grundstein für eine wechselhafte Geschichte von glanzvoller Gelehrsamkeit und erstarrter Buchstaben-Theologie, die Buchara bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bestimmte. „Überall fällt das Licht aus dem Weltall auf die Erde“, hieß es zeitweise, „in Buchara aber strahlt es von der Erde ins Weltall.“ Mehr als 200 Koranschulen gab es in der Stadt, und etwa zwanzig davon bilden bis heute ein einzigartiges Ensemble. Die Medrese Mir-e Arab ist seit ihrer Gründung 1535 bis heute ununterbrochen in Betrieb und wurde sogar von den Sowjets als aktive Koranschule geduldet. Vom Geist der frühen Korangelehrten in Buchara zeugt eine Inschrift auf dem Portal der Medrese von Ulugh Bek, die als Schlusswort einer Reise durch die vier islamisch geprägten Länder Mittelasiens dienen mag: „Das Streben nach Wissen ist die Pflicht eines jeden Muslim und einer jeden Muslimin.“
Information
Die 15-tägige Reise „Sagenhafte Seidenstraße“ im Sonderzug Orient Silk Road Express durch Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan wird jeweils im März/April und September/Oktober vom Veranstalter Lernidee (www.lernidee.de) angeboten. Die Übernachtungen finden abwechselnd im Zug und in städtischen Komforthotels statt. Die Preise liegen je nach Abteilkategorie zwischen 4550 und 12.200 Euro inklusive Flug, Mahlzeiten und kompetenter Reiseführung.