Was ist denn bitte in die „Hart aber fair“-Redaktion gefahren, mochte sich mancher gedacht haben. Da hängt die gesamte Regierung in der Luft (samt Krankenhausreform); da redet ein sich aufmuskelnder Markus Söder bei „Caren Miosga“ mit Kreidestimme die letzte Große Koalition schön (um eine Wiederauflage einzuleiten); da mucken in der SPD nicht nur die Hinterbänkler gegen einen so unbeliebten wie störrischen Kanzlerkandidaten Scholz auf; da bastelt Donald Trump Tag für Tag an einem Gruselkabinett, das auf allen Ebenen auf Konfrontation aus ist; da kommt die Taurus-Diskussion mit Macht zurück – und dann sieht der konfrontative Montagstalk im Ersten aus, als wiederhole man eine im Keller gefundene, zwei oder drei Jahre alte Sendung zu Corona?
Die Aufarbeitung der Pandemie wird allerdings mit guten Argumenten und nicht nur von impfskeptischer Seite immer wieder gefordert. Tatsächlich ist es ja bedeutsam, sich klarzumachen, was man bei einer weiteren Pandemie anders, was man genauso machen würde. Und dass Deutschland vergleichsweise gut durch diese Zeit gekommen ist, ist eben nur ein Pauschalurteil, das seine Überzeugungskraft beim Blick auf Einzelschicksale schnell verliert. Dem Talk vorausgegangen ist eine der einfühlsamen Sendungen zum Thema von Eckhart von Hirschhausen – sein siebter Film zu Corona. Bei allem anstrengenden Personality-Überschuss (fast kein Bild ohne den Moderator, der jetzt auch bei Louis Klamroth sitzt) ist es wichtig, dass jemand so nachhaltig auf das immer noch zu wenig wahrgenommene Phänomen Long Covid aufmerksam macht. Man sterbe langsam, sagt eine der Betroffenen im Hirschhausen-Film: Deshalb nehme die Gesellschaft es nicht wahr. Auch eine prozentual kleine Zahl an Impfschäden sind nachgewiesen. Die Symptome ähneln oft denen von Long Covid. Besonders gelitten hat zudem die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Gründe also gibt es genug, sich noch einmal mit dem Trauma Corona zu befassen.
Lauterbachs Breitseite gegen die FDP
Ankergast des Abends war der noch geisterhaft amtierende Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, der zwar stets zusagt, wenn man ihn fragt, dem aber die vielen Long-Covid-Fälle und anderen Pandemiefolgen glaubhaft am Herzen liegen. Gegen Ende der Sendung bekam Lauterbach dann auch noch Gelegenheit für ein gutes Wort zwar nicht für die Krankenhausreform, aber für den Kanzlerkandidaten Scholz – und für eine Generalabrechnung mit dem Ex-Koalitionspartner. Einen „beispiellosen Verrat“ sieht Lauterbach darin, dass die FDP unter Christian Lindner, wie man nun wisse, längst schon an der Sabotage des Ampelprojekts gearbeitet habe, während die beiden anderen Partner es noch zu retten versuchten. Mit einer solchen Partei würde er nicht noch einmal zusammenarbeiten wollen. Und dann holte er zur Breitseite aus: „Ich muss offen sagen: Ich könnte damit leben, wenn die FDP es nicht schaffen würde, in den Bundestag zu kommen.“ Ganz unberührt vom Ampel-Ende strahlte er ansonsten die Gewissheit aus, als Gesundheitsminister noch einiges gestalten zu können.
In vielen Punkten, etwa der notwendigen Stärkung der Forschung zu Long Covid (Lauterbach: dafür habe er 150 Millionen Euro aufgebracht; auch mit der durch die FDP nötig gewordenen vorläufigen Haushaltsplanung sei dieser Posten nicht in Gefahr), der Stärkung der Kinder- und Jugendpsychologie (Lauterbach: das sei angegangen worden) oder einer kritischen Einschätzung der Schließung von Schulen und Kindergärten in der Pandemie (Lauterbach: das sehe er im Nachhinein auch so, habe er aber schon oft gesagt) waren sich nicht nur der Minister, Hirschhausen und die zwischen ihnen sitzende Alena Buyx, von 2020 bis April 2024 Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, weitgehend einig. Auch die ihnen gegenüber platzierten Diskutanten konnten da im Prinzip mitgehen.
Ein Einzelexperte bemängelt die Bedeutung von Einzelexperten
Damit es überhaupt ein bisschen konfrontativ würde, hatte man keinen der Lieblingsvirologen von Karl Lauterbach eingeladen, sondern den schon zu Pandemiezeiten eher entspannt argumentierenden, Maßnahmen wie Schulschließungen bereits damals ablehnenden Epidemiologen und Veterinärmediziner Klaus Stöhr. Da gibt es tiefsitzende gegenseitige Verletzungen, die weit zurückreichen. Panikmache hat Stöhr, der mit seinen Positionen gern in der Springer-Presse auftauchte, Lauterbach mehrfach öffentlich attestiert; der Minister wiederum schlug im März 2022 in Markus Feldenkirchens Fernsehsendung „Konfrontation“ zurück und sagte süffisant: „In der Wissenschaft selbst käme keiner auf die Idee zu sagen, dass Herr Stöhr ein Topvirologe ist.“
So scharf wurde es an diesem Abend nicht, was auch daran liegen mag, dass Stöhr alles andere als zielgerichtet argumentierte und mehrfach von Moderator Klamroth gebremst werden musste. Die einzig handfesten, aber leicht zu parierenden Einwürfe Stöhrs beschränkten sich im Grunde auf die Bemängelung, dass es in der Pandemie keine mitlaufende Evaluierung der Maßnahmen gegeben und die Regierung sich zu sehr auf „Einzelexperten“ gestützt habe (wobei er spätestens als Mitglied des Sachverständigenausschusses zur Evaluation der Coronamaßnahmen ab 2022 selbst zu diesen gehörte). Hinzu kam noch eine leicht derangiert wirkende Kritik an Corona-Massentests in Schulen, weil die viel zu teuer gewesen seien.
Anhaltendes Systemversagen
Eher unglücklich geriet der Virologe schließlich mit der Mutter einer an Long Covid leidenden Jugendlichen aneinander, weil er zu erklären versuchte, dass es für Long Covid „keine Biomarker“ gebe. Long Covid leugnen wollte er damit wohl nicht, aber es mochte Betroffene daran erinnern, dass die Erkrankung immer noch häufig als psychosomatisch fehldiagnostiziert wird. Elena Lierck, die auch Gründerin des Vereins „NichtGenesenKids e.V.“ ist, redete Stöhr nun jedenfalls geradezu an die Wand. Denn es gebe von Blutgerinnseln bis zu Autoantikörpern und Herzfrequenzänderungen eine ganze Reihe nachweisbarer Symptome bei Long Covid. Überhaupt war Liercks Auftritt der stärkste Moment dieser Sendung: Dass unsere Gesellschaft so viele Menschen in ihrem Long-Covid-Leid zurücklässt, dass Betroffene um jede kleine Unterstützung lange kämpfen müssen, ist in der Tat, wie Hirschhausen es ausdrückte, „ein Systemversagen“. Lauterbach ließ sich zu der Vorhersage hinreißen, dass die Forschung in Bezug auf die schlimmste, die ME/CFS-Variante von Long Covid „eine Heilung hinbekommen“ werde, auch wenn das noch „ein paar Jahre“ dauere.
Hohen Puls hatte auch der zweite Kritiker der von Lauterbach als im Großen und Ganzen in Deutschland erfolgreich verlaufen bezeichneten Pandemiebekämpfung: der bereits seit der Pandemie selbst immer wieder hart mit Regierungsentscheidungen ins Gericht gehende Universalkommentator der „Süddeutschen Zeitung“, Heribert Prantl. Hier wirkte die Sendung dann tatsächlich stellenweise wie eine Wiederholung, statt darauf abzustellen, was für das Heute und die Zukunft aus dem Umgang mit dem Virus gelernt werden könne. Was Prantl erboste: „Es mussten im Prinzip alle Grundrechte beiseite springen, wenn behauptet wurde, dass bestimmte Maßnahmen dem Lebensschutz dienen.“ Dieses Antasten der Grundrechte müsse nach- und aufgearbeitet werden, einmal, weil dieses „inquisitorische Klima“ zur „Spaltung der Gesellschaft“ geführt habe, aber auch, weil die Würde des Grundgesetzes es einfach verlange. Das war dann auch schon der größte Disput dieser Sendung, da Lauterbach die Sorge um die Grundrechte nickend nachzuvollziehen schien, einer Aufarbeitung auch zustimmte, aber dann ruhig replizierte: „Wären wir weniger vorsichtig gewesen, wären noch mehr Menschen gestorben und es hätten noch mehr Menschen jetzt Long Covid – und das wäre aus meiner Sicht unverantwortlich und ein Fehler gewesen.“ Darauf wiederum hatte Prantl keine Antwort, der stattdessen das juristische Chaos im Infektionsschutzgesetz kritisierte (Lauterbach: haben wir doch aufgeräumt).
Kein Platz für positive Leistungen
Zwei Dinge räumte Lauterbach im Rückblick dann doch noch ein. Mancher rhetorische Angriff auf die damals die Impfung Verweigernden – konkret ging es um Jens Spahns Formulierung „Pandemie der Ungeimpften“ – sei im Ton „nicht richtig“ gewesen. Und auch dass die Impfpflicht, die Lauterbach seinerzeit befürwortete, im April 2022 im Bundestag abgelehnt wurde, sehe er im Nachhinein als „die richtige Entscheidung“. Aufarbeitung oder gar Aussöhnung kann man das wohl noch nicht nennen. Als Hirschhausen dann noch darauf hinwies, dass gleichzeitig mit der Pandemie auch „eine Infodemie“ stattgefunden habe: Videos mit gefährlichem Unsinn seien millionenfach geklickt worden, da stand die seither eher noch vertiefte gesellschaftliche Spaltung gleich wieder allen vor Augen.
Man hätte wohl nicht die alten Streithähne einladen sollen, die unverrückbar an ihren Positionen festhalten. So musste die Sendung scheitern. Es ist bezeichnend, wie alleine Alena Buyx mit ihrem zweimaligen Versuch blieb, neben aller Kritik betonen zu wollen, was man in dieser Sondersituation gemeinsam Positives geleistet habe. Dabei ließe sich daraus Kraft schöpfen. Auch Hirschhausen war der Ertrag der Diskussion offensichtlich zu gering, wenn er mit Blick auf „Tausende von Viren“ in unserer Umwelt, die – beflügelt von Klimawandel und Artensterben – leicht zur nächsten Pandemie führen könnten, gegen das kleinteilige Genörgel salopp ausrief: „Warum reden wir nicht endlich einmal darüber, wie können wir aus der Scheiße lernen, damit wir es nicht direkt wieder kriegen?“ In dieser Sendung jedenfalls war dafür keine Zeit mehr. Es reichte bloß noch für ein paar düstere Sätze Stöhrs, der hoffte, dass die nächste Pandemie, die es geben werde, nicht die Mortalitätsrate der Spanischen Grippe habe. Immerhin, so Lauterbach, arbeite die WHO seit zwei Jahren an einem Pandemieabkommen, „womit wir besser vorbereitet wären für eine neue Pandemie“.
Wenig Überzeugungsbereitschaft
Einigen konnte man sich noch darauf, dass ein Impfungen ablehnender US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. „keine Verheißung“ (Lauterbach) für die Welt sei, übersetzt: „eine Vollkatastrophe“ (Hirschhausen). Der schöne WHO-Plan damit auch in Gefahr.
Was also hat die Pandemie aus uns gemacht? Eine Gesellschaft, die kaum noch streiten kann, weil das auch ein gewisses Vertrauen in die Argumente des Gegenübers voraussetzt. Weil man prinzipiell überzeugungsbereit sein müsste. Das zeigte sich bereits in einer Sendung, in der die wahren Gegner nicht einmal vertreten waren.